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Archiv-Artikel

Im Rhythmus des Landlebens

JAHRHUNDERTWERK Das Babylon-Mitte zeigt Edgar Reitz’ „Heimat – eine deutsche Chronik“ in einer neu restaurierten und digitalisierten Fassung

Ein avantgardistisches Großprojekt, das Laien und Schauspieler zusammenführte

VON CLAUDIA LENSSEN

Heimat war lange ein anrüchiges Wort. Die Generation der Kriegskinder wollte weg von der Scholle, weg vom Trachtenkitsch und dem NS-kontaminierten Gedankengut der Alten. Lieber sich neu erfinden in München oder Berlin. Edgar Reitz ließ den väterlichen Uhrmacherladen im Hunsrück-Örtchen Morbach in den frühen 1950er Jahren hinter sich, um in München Theaterwissenschaft zu studieren und eine Karriere als Kamera-Avantgardist, Werbefilmer, Unterzeichner des Oberhausener Manifests und Spielfilmregisseur zu beginnen. Das heikle Gemisch aus Geborgenheit und sozialer Kontrolle, das seine dörfliche Kindheit geprägt hatte, war bald vergessen, der pfälzische Zungenschlag abgeschliffen.

Niemand konnte ahnen, dass Edgar Reitz zu seinen Wurzeln zurückkehren und die unspektakuläre, vom Krieg relativ unbeschadete Region im westlichsten Winkel der alten Bundesrepublik zum Mittelpunkt einer inzwischen legendären Familiensaga machen würde. Auslöser war eine tiefe Krise, in die ihn der Misserfolg seines Films „Der Schneider von Ulm“ gestürzt hatte.

„Heimat – Eine deutsche Chronik“, diesen offensiven Titel setzte Reitz über seine Mikrogeschichten aus dem fiktiven Hunsrück-Dorf Schabbach, wuchtig in Stein gemeißelt im Vorspann der elf abendfüllenden Filme, die 1984 bei den Filmfestspielen Venedig Premiere feierten. Entstanden waren die im 35-mm-Kinoformat gedrehten, mit surrealen Farbepisoden ausgestatteten Schwarz-Weiß-Filme nach mehrjährigen Recherchen in einem heute noch zu besichtigenden Film-Dorf. Lange bevor der Hype epischer TV-Serien ausbrach, war Heimat ein avantgardistisches Großprojekt, das Laien und Schauspieler zusammenführte und sich ohne den Rückhalt einer literarischen Vorlage auf die Gemengelage deutscher Familiengeschichte und deren Berührungspunkte mit der „großen“ Geschichte des 20. Jahrhunderts einließ.

Edgar Reitz gelang ein offensiver Gegenentwurf zu Rainer Werner Fassbinders universalistischen Melodramen, Wim Wenders’ Roadmovies und Werner Herzogs Außenseiterepen. Heimat kreist um die Lebensläufe der Familie des Schmieds Simon und des Bauern und Bürgermeisters Wiegand, beginnend mit der Rückkehr des jungen Paul Simon aus dem Ersten Weltkrieg, erzählt im langsamen Rhythmus des Landlebens, das scheinbar nur am Rand von der Machtergreifung des NS und dem Zweiten Weltkrieg betroffen ist, unter der beschaulichen Oberfläche indes von den Wünschen und Leidenschaften der unterschiedlichen Generationen, ihren Anpassungsleistungen, aber auch ihren Ausbrüchen aus der Konformität.

Im Spiegel der Jahrzehnte bis zum Ende der Erzählzeit 1982 geht es um die große Frage, welchen Einfluss die Menschen auf ihr Schicksal nehmen und wie ihre Gefühle und Haltungen das Binnengefüge des Familienverbandes neu verorten. Geschichten vom Weggehen, Zurückkehren und (nie) Ankommen ziehen sich wie rote Fäden durch den Zyklus. Paul verlässt das Dorf und seine Pflichtehe, um in den USA Karriere als Unternehmer in der Rundfunkindustrie zu machen, seine Söhne Anton und Ernst, die ohne Vater aufwachsen, investieren mit wechselndem Erfolg in die optische Industrie und die Fliegerei, während Hermann, der dritte Sohn, sich als Künstler (und Alter Ego des Regisseurs) der urbanen Kultur und atonalen Musik zuwendet.

Die Heimat-Chronik war so erfolgreich, dass Reitz einen weiteren Zyklus über „das Hermännsche“ und dessen München-Erlebnisse in den 1960er Jahren folgen ließ, später einen weiteren über die Zeit der politischen Umwälzung nach 1989 und eine filmische Reverenz an die Heimat-Frauen sowie zuletzt 2013 das monumentale Prequel „Die Andere Heimat“, das von der großen Auswanderung aus dem Hunsrück im 19. Jahrhundert erzählt.

Beinahe vergessen wurde, dass die Heimat-Chronik, die Mutter des mehr als 50 Stunden umfassenden Gesamtwerks, nur in Form verschlissener Filmkopien überdauert hatte. Edgar Reitz gelang mithilfe öffentlicher Mittel die Restaurierung und Digitalisierung. Das ansehnliche Ergebnis ist nun im Babylon-Kino zu sehen. Am 1. März präsentiert der Filmwissenschaftler Thomas Koebner zudem sein Buch „Edgar Reitz – Chronist deutscher Sehnsucht“, und abends lädt der Regisseur zum Familientreffen aller Beteiligten ein.

■ Das Babylon-Mitte zeigt Reitz’ Filmepos drei Tage lang vom 27. 2. bis 1. 3. – in Einzelfolgen sowie in zwei langen Marathon-Runden