Auf dem Weg ins Dazwischen

PERFORMANZ Am Freitag startet die zwölfte und letzte Auflage des 100° Festivals mit einem prall gefüllten Programm. Vom kommenden Jahr an soll es ein neues Festivalformat geben

■ Vom 26. Februar bis zum 1. März findet die letzte Ausgabe des 100° Berlin Festivals statt. Gespielt wird in den Sophiensælen, dem HAU und dem Ballhaus Ost. Über 120 Produktionen werden im Stundentakt gezeigt.

■ Infos zum Programm sind auf den Websites der drei Theater zu finden.

VON ESTHER SLEVOGT

Heute startet die zwölfte Ausgabe des Berliner Freie-Szene-Festivals 100°. Wie immer ist das Angebot prall, 120 freie Produktionen unterschiedlichster Genres und Formate an vier Tagen und drei Spielstätten. Auf insgesamt 34 Bühnen gibt es Auftritte. Mitmachen kann jeder, der sich rechtzeitig angemeldet hat. Kein Kurator, nirgends.

Nur ein paar Grundregeln müssen beachtet werden: Auf- und Abbau der Bühne dürfen maximal eine halbe Stunde dauern, die Vorstellung nicht länger als 45 Minuten. Ansonsten sind der Qualität nach oben und unten keine Grenzen gesetzt. Die Zuschauer können sich per Shuttle durch die unterschiedlichen Spielorte zappen: das HAU, die Sophiensæle und das Ballhaus Ost. Erfahrene Theatermacher und -kritiker resümieren und reflektieren jeweils in Mitternachtsgesprächen die Vorstellungen eines Tages. Trennen die Spreu vom Weizen.

Schon manches Talent ward hier in den letzten Jahren entdeckt. Die Liste derer, die hier mitmachten, ist entsprechend lang und illuster. Extremtheatermann Vegard Vinge trat hier auf, Patrick Wengenroth oder Robert Borgmann, der in diesem Jahr schon zum zweiten Mal zum Theatertreffen eingeladen wurde. Das inzwischen für seine Theatergames gefeierte Perfomancekollektiv machina eX präsentierte bei 100° zum ersten Mal öffentlich eine Arbeit. In diesem Jahr ist machina eX-Frau Anna Fries unter den MitternachtssprecherInnen, zu denen auch Rimini-Protokoll-Grandmaster Stefan Kaegi gehört.

Doch die zwölfte 100°-Ausgabe wird nun die letzte sein. Als das Festival 2004 an den Start ging, hatte Matthias Lilienthal gerade die drei frisch zum Theaterkombinat HAU zusammengeschlossenen Spielstätten Theater am Halleschen Ufer, Hebbel Theater und Theater am Ufer übernommen. Daneben gab es als etablierte freie Spielstätte eigentlich nur noch die Sophiensæle. Es herrschte Aufbruchsstimmung in der Szene, ein Sichtbarkeits- und Professionalisierungsschub.

Durchlauferhitzerprinzip

Das Turbotempo und Durchlauferhitzerprinzip (dessen Echo im Festivalnamen 100° nachklingt) war das Rezept, mit dem Lilienthal das HAU binnen kürzester Zeit zu einem der erfolgreichsten Berliner Theater machte. Doch dieses Prinzip ist inzwischen der Forderung nach nachhaltigeren Produktionsweisen gewichen. Die freie Szene hat sich verändert. Berlin hat inzwischen viele Spielstätten für freies Theater. Längst guckt sich auch das institutionalisierte Theater einiges von den flexiblen Produktionsweisen der Freien ab. Auch das jetzige Maxim Gorki Theater ist aus der freien Szene hervorgegangen, dem Ballhaus Naunynstraße, dessen Anfänge wiederum im postmigrantischen HAU-Festival „Beyond Belonging“ liegen, das von Shermin Langoff kuratiert worden ist.

Außerdem habe die Zahl der echten Festivalentdeckungen in den letzten Jahren sichtbar abgenommen, sagt Aenne Quinones von der jetzigen künstlerischen Leitung des HAU um Annemie Vanackere. Ein Festival mit Scoutfunktion habe sich inzwischen auch an der Universität Hildesheim etabliert, der deutschen Kaderschmiede für den Performance-Nachwuchs.

Deswegen sei das Festival in dieser Form nicht mehr ganz zeitgemäß. Deshalb wird nun an einem neuen Format gearbeitet, das ab 2016 in der Trägerschaft des LAFT, des Landesverbandes für Freies Theater, veranstaltet werden soll. Diese Dachorganisation der Freien Theater in Berlin ist schon jetzt mit einem Beratungspaket beim 100° Festival dabei und bietet Workshops für freie Theatermacher an: angefangen mit Versicherungsfragen bis zur Antragsberatung. Motto: Wie kommt man als freier Künstler in Berlin mit seinen Projekten durch und kann davon auch noch leben!

Das neue Performing-Arts-Festival soll sich an Schaufenster-Plattformen wie dem Gallery Weekend Berlin orientieren, so Aenne Quinones. Damit würden die Performing Arts in der Stadt noch einmal anders gebündelt und aufgewertet und auch für das Stadtmarketing interessanter. Inzwischen sei Berlin ja auch Anziehungspunkt und Arbeitsort von Performing Artists aus der ganzen Welt. Um dieses große Potenzial besser sichtbar zu machen, sei ein neues Festivalformat ein gutes Instrument.

Partys und Debatten

Doch jetzt erst noch einmal ins gute alte 100° Festival und in dessen Ästhetik der Überforderung getaucht: Performances, Partys, Debatten, bis es nicht mehr geht. Der Freitag ist als „Gendertag“ angekündigt. Es geht, na klar, um die Rollen der Geschlechter. Die Performance „Hermaphroditos“ von Reit, Kares, Schudy und Ripberger macht sich auf den Weg ins Dazwischen. Das Kollektiv Kriese/Stock/Walther denkt über Neue Männlichkeit nach und bietet in diesem Kontext ein Dating-Seminar an. Und im nächsten Jahr ist dann alles anders.