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Archiv-Artikel

Explodierendes Selbst

PROJEKTIONEN Identität im Ausnahmezustand: Das Theaterstück „Ich rufe meine Brüder“ des Schweden Jonas Hassen Khemiri fragt, was die Angst vor dem Fremden mit denen macht, die sie auf sich beziehen

Ein Labyrinth kleiner Szenen und Interludien gibt dem Abend beeindruckende Rasanz

VON ROBERT MATTHIES

Irgendwann spricht Amor es selbst aus: „Weißt du, ich bin nicht sicher, wie viel sich nur in meinem Kopf abspielt“, sagt er am Telefon zu seiner Angebeteten Valeria. Schnell wird deutlich: Auch sie traut dem Sandkastenfreund nicht über den Weg, fühlt sich von ihm nicht geliebt, sondern seit Jahren verfolgt; um seinen Avancen zu entgehen, verließ sie die Stadt. Die große Liebe: ein gefährliches Hirngespinst.

Der vermeintliche Blick der anderen, der zum Blick auf sich selbst wird; die vertraute Umgebung, die plötzlich ganz anders erscheint; der Ausnahmezustand auf den Straßen und in den Medien, der zum Krieg im eigenen Kopf wird; gesellschaftliche Paranoia, an der das Selbst irre wird: Von all dem handelt Jonas Hassen Khemiris „Jag ringer mina bröder“ – „Ich rufe meine Brüder“.

Geschrieben hat der schwedische Autor die Erzählung vor vier Jahren als Reaktion auf das erste dschihadistische Selbstmordattentat in dem Land: Ein 28-jähriger Schwede mit irakischem Familienhintergrund brachte 2010 in Stockholm eine Autobombe zur Detonation, zwei Passanten wurden verletzt. Zehn Minuten später starb der Attentäter selbst in einer fast leeren Nebenstraße – ein Sprengsatz, den er am Körper trug, war explodiert. Gemeint war der Anschlag als Racheakt: für den schwedischen Militäreinsatz in Afghanistan und die Mohammed-Zeichnungen des Karikaturisten Lars Vilks. Und er bildete den Anlass für eine ganze Reihe von Sicherheitsmaßnahmen, die seither vermeintlich Fremdes unter Verdacht stellen.

Am Tag nach einem Attentat lässt Khemiri seinen Amor umherirren, ein Schwede mit einem arabischen Elternteil, so wie der Autor selbst. Eigentlich soll der unreife, etwas verpeilte junge Mann nur für seine Familie im „zweiten Land“ einen Bohrkopf umtauschen. Er telefoniert mit seiner Cousine, die ihn für einen Träumer hält; mit seinem besten Freund Shavi, von dem er genervt ist, seit der so in seiner Rolle als junger Vater aufgeht. Ganz alltägliche Probleme, im Grunde eine Coming-of-age-Geschichte.

Aber der Weg durch die verunsicherte Stadt wird zur Irrfahrt in die eigene Verunsicherung, zur Suche nach einem Platz in einer Gesellschaft, die plötzlich fremd erscheint und in jedem Fremden eine Gefahr wittert. Auch Amors Reaktion auf die Situation ist voller stereotyper Denkmuster: Unvorstellbar ist für ihn, dass Polizisten dem Fahrer eines Autos mit ausländischem Kennzeichen tatsächlich nur freundlich den Weg zeigen. Dass der Verkäufer, bei dem er den Bohrkopf tauscht, in ihm keinen Terroristen sieht. Wird er verfolgt? Und irgendwie scheint sich Amor selbst auch nicht mehr sicher zu sein: War ich es vielleicht doch?

Ob in ihm ein Attentäter schlummert lässt auch Anton Karl Kruses Inszenierung offen, die jetzt in der Garage des Thalia Gaußstraße Premiere feiert. Mit zwei SchauspielerInnen hat er das Stück besetzt, aber wer nun wen spielt, auch das bleibt absichtlich undeutlich. In verschiedene Rollen schlüpfen Pascal Houdos und Alicia Aumüller, sitzen abwechselnd singend am Klavier, stehen sich als Kämpfer und Fee gegenüber, sprechen miteinander und dann wieder das Publikum an, erscheinen projiziert an der Wand hinter der Bühne. So wie auch Amor immer wieder andere Rollen spielt, mal intime Geschichten erzählt, mal wütend zum Kampf aufruft, mal fragend vor sich selbst steht.

Es ist ein Labyrinth kleiner Szenen und Interludien, das dem Abend immer wieder eine beeindruckende Rasanz gibt. Geschickt führt Khemiri verschiedene Ebenen zusammen, bricht die Erzählung dann wieder auf. Ein Mosaik fragmentarischer Versatzstücke einer sich verlierenden Identität im Ausnahmezustand hat Kruse daraus gebastelt – zusammengehalten nur noch von dem, womit das Stück beginnt und endet: einem lauten Knall.

■ Premiere: Sa, 28. 2., 20 Uhr, Thalia, Gaußstraße; weitere Aufführungen: Mo, 2. 3., 19 Uhr; Sa, 7. 3., 20 Uhr; Di, 17. 3., 20 Uhr