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Archiv-Artikel

Atonales Altona unterm Lorbeerkranz

Die Christians-Kirche in Hamburg-Altona ist zu einer renommierten Spielstätte Neuer Musik geworden. Berührungsängste haben nicht etwa kirchliche Traditionalisten, sondern die Puristen der Moderne. Aber selbst die haben sich an Barockschmuck gewöhnt

Kunst und Kirche? Wollte man den jüngsten Äußerungen des Kölner Erzbischofs Meisner glauben, „entartet“ die Kunst, wenn sie „von der Gottesverehrung abgekoppelt“ wird. Geschichtsbewusste Zeitgenossen haben dagegen eingewandt, dass die Moderne dort ihren Ursprung hat, wo sich die Kunst vom Kultus zu lösen beginnt. Einig sind sich beide Parteien nur in einem: L’art pour l’art und Halleluja ergeben eine schrille Dissonanz.

Oder vielleicht doch nicht? In der mit Orten für neue und experimentelle Musik nicht eben gesegneten Freien und Hansestadt Hamburg hat sich eine ganz bemerkenswerte Symbiose etabliert. Ausgerechnet in der schmucken barocken Christianskirche am Klopstockplatz, wo Altona wieder bürgerlich wird und die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, findet sich eine der wichtigsten Spielstätten für neue Klänge von Avantgarde bis Free Jazz. Seit 2004 finden hier Konzerte im Rahmen der Reihe „Forum Neue Musik“ statt. Gegründet wurde das Forum von den Künstlern Milo Lohse und Nikolaus Gerszewski.

Die beiden Veranstalter wollen ohne ästhetische Scheuklappen die ganze Breite der aktuellen Musik ausloten. Pioniere aus dem heroischen Zeitalter der Neuen Musik wie der Pianist John Tilbury oder der Gitarrist Keith Rowe waren hier schon zu Gast. Aber auch die eingängigeren Klänge von Philip Glass’ „Hydrogen Jukebox“ gab es jüngst zu hören. Darüber hinaus bietet das Forum Neue Musik der Hamburger Szene eine Heimstatt: Das TonArt-Ensemble gestaltete eine „Nacht der Nächte“ von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang, und der Nelly Boyd Kreis huldigte hier seinem Hausheiligen John Cage. Daneben gibt es aber auch rein „musikantische“ Konzerte, wie Gerszewski sie nennt, bei denen schwarz befrackte Musiker streng nach Noten Sonaten von Schostakowitsch oder Gubaidulina zu Gehör bringen.

Einwände gegen die Avantgarde im Kirchenraum, so erzählt Lohse, habe es bisher allenfalls von Seiten einiger hart gesottener Modernisten gegeben. Dort, wo ein Engel segnend einen Lorbeerkranz über das Podium im Altarraum hält, scheuten sie die „Auratisierung“ ihrer Kunst. Aber die echten Probleme der beiden Organisatoren sind vor allem pragmatischer Natur. Für die rund zwanzig Konzerte im Jahr gibt es nur einen einmaligen Zuschuss von der Kulturbehörde in Höhe von etwa 1.200 Euro. Reisekosten und das Honorar für die Musiker müssen an der Abendkasse eingespielt werden. Die Werbung für ihre Konzerte läuft über Mundpropaganda und Plakate, die die beiden ehrenamtlichen Konzertveranstalter eigenhändig in der Stadt verteilen.

Die nächsten Plakate hängen Gerszewski und Lohse für das Quartett Lemur aus. Nach eigener Auskunft konfrontieren die Norweger: „Noise, Kammermusik und Free Jazz; warme, fast romantische Klanglandschaften an der Grenze zur Tonalität, und raue, schrille Klänge“.

Die beste Antwort auf die Frage, was „Geräusch“ und „raue, schrille Klänge“ an einem Ort der Andacht zu suchen haben, hat sicher jener Dichter gegeben, der auf dem Friedhof der Christianskirche begraben liegt: Vor rund 250 Jahren schon erahnte der studierte Theologe Friedrich Gottlieb Klopstock in dem Gedicht „Die Musik“ eine andere Klangkunst, von der er schrieb: „Ob man vielleicht nicht selbst zu des Haines Geräusch, und der Weste Säuseln, stimme den rieselnden Bach? Zum Einklange nicht bringe den Donnersturm mit dem Weltmeer?“ ILJA STEPHAN

Im Forum Neue Musik in der Christianskirche spielt am 11. November um 20 Uhr das Ensemble Lemur aus Norwegen