Den nicht aufrechten Gang proben

THEATER Jan-Christoph Gockel inszeniert Gerhart Hauptmanns Tragikomödie „Die Ratten“ in Mainz und setzt dabei vor allem auf den Trauerprozess

In ihrer Not schnappen die Säuglinge nach Luft, öffnen dazu ihre Münder, von irgendwo ein Seufzer

VON SHIRIN SOJITRAWALLA

Frau Hassenreuter lässt Seifenblasen steigen, Piperkarcka altmodisches Spielzeug kugeln und Hausmeister Quaquaro seinen kleinen Mann onanieren, bis die Stimmung kippt und alle ihre Puppenkinder zu züchtigen beginnen: Sie und andere kauern in einem dreigeschossigen Riesenregal und haben jeweils eine Puppe vor sich, womöglich ihr einstiges Selbst.

Das gespenstische Tableau eröffnet den vierten Akt und ist zugleich das stärkste Bild des dreistündigen Abends. Gerhart Hauptmanns Prekariatsdrama „Die Ratten“ aus dem Jahr 1911 wird gern und oft gespielt, denn zeitgemäß bleiben die Verherrlichung und Vernachlässigung von Kindern immer und die traurige Geschichte der Frau John sowieso. Deren Sohn ist kurz nach der Geburt gestorben, später überredet sie das polnische Dienstmädchen Pauline Piperkarcka, ihr uneheliches Kind an sie zu verscherbeln. Das ist der Anfang des Dramas. Jan-Christoph Gockel, einer von fünf Mainzer Hausregisseuren, hat das Stück gemeinsam mit dem Puppenbauer Michael Pietsch in Szene gesetzt.

Zu Beginn ertönt „Der Mond ist aufgegangen“, und ein Marionettenkind im roten Kapuzenmantel klappert über die Bühne. Frau John nimmt sich seiner an, ermuntert es zu diesem und jenem, doch das hölzerne Kind verkriecht sich lieber in ihren Schoß. Die Marionette verkörpert den toten Sohn der Johns, Adalbert, der in der Erinnerung seiner Eltern nistet, und rührt uns in ihrer stummen Großäugigkeit mehr, als ein lebendiges Kind es könnte. Während Mutter und Sohn spielen, warten die übrigen Figuren wie Requisiten im Theaterfundus auf ihren Einsatz. Das Regal, in dem sie sitzen, mimt die Mietskaserne. Die niedrige Deckenhöhe zwingt die Schauspieler, sich in gebückter Haltung durchzuschlagen.

Das erinnert sehr an Michael Thalheimers umjubelte „Ratten“-Aufführung am Deutschen Theater in Berlin aus dem Jahr 2007. Den nicht aufrechten Gang beherrschen auch die Mainzer Schauspieler und turnen und huschen zudem die Gänge entlang wie Nagetiere. Dabei kommen sie in Mainz auch aus der Deckung, spielen mal vor dem Regal, das, warum auch immer, mal nach hinten, mal nach vorne fährt. Dann wieder bevölkern sie unterschiedliche Räume, drängen sich hier auf ein kleines Sofa, nehmen dort auf Kinderstühlen Platz, woraus sich schöne Bilder der Bedrängnis ergeben. Später kommen noch andere Kinder hinzu, als Handpuppen, die von den Schauspielern geführt werden müssen, was sich beim Zusehen als störend erweist.

Die Säuglinge besitzen blasse Holzkörper und erinnern an Gollum aus „Der Herr der Ringe“, was das Mitleid mindert. In ihrer Not schnappen sie nach Luft, öffnen dazu ihre winzigen Münder, und von irgendwo entfährt ein Seufzer, was auch eher nach Mittelerde als nach Mietskaserne klingt.

Doch auch die heiteren Seiten der Tragikomödie kommen nicht zu kurz, wiewohl Überflüssiges hinzugedichtet wird. In der Parallelgeschichte chargiert Murat Yeginer den ehemaligen Theaterdirektor Hassenreuter als herrlich springteufelhaften Verwalter des Wahren, Schönen und Guten. Unerwartet entwickelt sich seine Probestunde mit Erich Spitta (Matthias Lamp), dem Schauspielschüler und Gspusi seiner Tochter, der urplötzlich eine wüste Frau-John-Performance hinlegt und damit alle überrascht. Während die Zuschauer noch nicht so recht wissen, was von dieser Aktion zu halten ist, donnert der Theatermann sein Urteil zweifelsfrei heraus: zu lang und zu laut!

Lang und laut gestaltet sich auch der Mainzer Abend, im Zentrum steht und fällt dabei Frau John. Sie ist es, die diese Inszenierung zusammenhält. Am Ende bezahlt sie ihre Traurigkeit mit dem eigenen Leben. Anika Baumann spielt sie sehr klar, mal zart, mal brutal, sowie mit der gebotenen Unbedingtheit.

Dem Programmheft entnehmen wir, dass ein Trauertherapeut, der Familien beim Abschied von ihren Kindern begleitet, die Proben unterstützte. Im Zuge eines Trauerprozesses steht die Wirklichkeit oftmals auf der Kippe, Realität und Fantasie verlieren ihre Trennschärfe. Davon zeugen auf der Bühne die Kindergeister und die hier und da angestimmte Gruselatmosphäre ebenso wie Bruno, der Bruder von Frau John, der sich in Mainz als weiterer Totengeist erweist. In einer anderen Dimension lebt er freilich weiter; selbes gilt für die bunte tote Kinderschar.