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Archiv-Artikel

Rechtsliberale bleiben am Ruder

ESTLAND Bei den Parlamentswahlen verliert die Regierung ihre absolute Mehrheit. Linkspartei legt leicht zu. Rechtsradikale ziehen zum ersten Mal ins Parlament ein

Soziale Fragen waren bei allen Parteien die wichtigsten Wahlkampfthemen

VON REINHARD WOLFF

STOCKHOLM taz | In Estland ist nach den Parlamentswahlen am Sonntag keine Kursänderung zu erwarten. Mit 27,7 Prozent der Stimmen und bei leichten Verlusten stärkste Partei wurde die rechtsliberale Reformpartei von Ministerpräsident Taavi Rõivas. Der mit 35 Jahren jüngste Regierungschef der EU wird sich allerdings nach neuen Koalitionspartnern umsehen müssen, weil seine Zweiparteienkoalition mit den Sozialdemokraten sieben ihrer bisherigen 52 Mandate und damit ihre parlamentarische Mehrheit verlor.

Die Überraschung der Wahl: Die 574.000 EstInnen – 64 Prozent der Wahlberechtigten –, die traditionell zur Urne gingen oder wie rund ein Fünftel davon per E-Voting ihre Stimme abgaben, verhalfen gleich zwei neuen Parteien ins Parlament. Und sie stärkten die linke Zentrumspartei. Diese steigerte ihren Stimmenanteil um 1,5 Prozentpunkte auf 24,8 Prozent und wurde zweitstärkste Kraft.

Ihr Spitzenkandidat Edgar Savisaar – 1991 erster Premier des selbstständigen Estland und jetzt Oberbürgermeister der Hauptstadt Tallinn – stellte mit fast 25.000 Stimmen einen persönlichen Stimmenrekord aller KandidatInnen bisheriger estnischer Parlamentswahlen auf. Versuche der übrigen Parteien, den als „moskaufreundlich“ geltenden Savisaar und seine Partei als eine Art „fünfte Kolonne Putins“ anzuschwärzen, vermochten damit selbst angesichts des Ukraine-Krieges die Zentrum-WählerInnenbasis nicht zu verunsichern.

„Ich habe mich mindestens schon 25-mal von der russischen Ukrainepolitik distanziert, wie oft muss ich das noch tun“, beschwerte sich Savisaar zuletzt am Wahltag in einem Interview. Die Zentrumspartei hat zwar ihre traditionelle Basis in der russischsprachigen Bevölkerungsgruppe des Landes. Die stellt rund ein Viertel der EinwohnerInnen, angesichts teilweise fehlender estnischer Staatsangehörigkeit aber nur etwa ein Achtel der Wahlberechtigten.

Als Partei mit ausgeprägt sozialem Profil, die sich für eine Verbesserung der Lebensbedingungen vor allem der ärmeren Bevölkerung und der RentnerInnen engagiert, hat sie sich aber auch fest in der ethnisch estnischen Bevölkerungsgruppe verankert. Soziale Fragen wie wachsende Armut und eine Arbeitslosenrate, die fast doppelt so hoch wie 2008 ist, waren bei allen Parteien die wichtigsten Wahlkampfthemen. Die Reformpartei setzt auf niedrige Unternehmensteuern und verspricht bessere Zeiten, wenn der Wirtschaftsaufschwung in Gang kommt. Die Zentrumspartei wollte im Fall einer Regierungsübernahme eine Aufstockung des Mindestlohns von 370 Euro und eine Erhöhung der Renten verwirklichen.

Ähnlich wie schon in den letzten zwei Jahrzehnten wird sie aber wieder in der Opposition landen, weil alle anderen Parteien auf nationaler Ebene eine Koalition mit Savisaars Zentrum ablehnen. Auf der Oppositionsbank wird sie Zuwachs von zwei neuen Parteien bekommen. 8,1 Prozent erhielt die Konservative Volkspartei, mit der erstmals eine rechtsradikale Partei ins Riigikogu einziehen wird. In ihrem Programm gibt sie sich EU-skeptisch, lehnt eine Beteiligung Estlands an Euro-Rettungsschirmen ab und möchte die Einwanderung nach Estland begrenzen. In einer Deklaration mit rechtsradikalen Parteien Lettlands und Litauens verspricht sie, gegen den „grenzüberschreitenden Globalismus“ und für das „nationalistische Erwachen“ in den baltischen Staaten kämpfen zu wollen. 2014 führte die Partei unter dem Motto „kui on must, näita ust“, „Bist du schwarz – mach dich nach Hause“ in Tallinn eine rassistische Kampagne.

Der zweite Neuling ist die rechtspopulistische Freie Partei. Erst vor wenigen Monaten gegründet, will sie gegen Korruption und für mehr Demokratie und Offenheit arbeiten. Einen Großteil ihres 8,7-prozentigen Stimmenanteils zog sie offenbar dem ideologisch nahestehenden nationalkonserativen Wahlbündnis IRL ab, das von 20,5 auf 13,7 Prozent schrumpfte. Dennoch dürfte IRL neben den Sozialdemokraten, die mit einem Minus von knapp 2 Prozentpunkten auf 15,2 Prozent kamen, aller Voraussicht nach in die nächste Koalitionsregierung mit Rõivas Reformpartei eintreten. Dieses Mitte-rechts-Bündnis hätte eine Mehrheit von 59 der 100 Sitze.

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