: Bonjour Tristesse
STATION 412 Tage hat der Fotograf Christian Ditsch in der Psychiatrie verbracht. Ertragen hat er es nur, weil er seinen Alltag dort fotografierte
Ein Topf mit Amaryllis im Flur der psychiatrischen Abteilung. „Ein Lichtblick in einem tristen, deprimierenden Umfeld“, sagt der Fotograf Christian Ditsch
Auf was für Kleinigkeiten die Leute sich freuen. Grießbrei! Morgen gibt es Grießbrei, weißt du schon?
Es ist noch gar nicht lange her, es war im Oktober, vor nicht mal zwei Monaten, da war er in der psychiatrischen Abteilung einer Klinik in einer großen deutschen Stadt, der Fotograf Christian Ditsch. Hatte sich selbst eingewiesen, „der Verlust einer nahestehenden Person hat mich aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht“, das Leben war nicht mehr zu schaffen. Fünfeinhalb Wochen lang.
412 Tage Frühstück, Morgenrunde, Austeilung der Therapiekarten, Therapie (Körbe flechten, malen, Sport), Mittag, Visite, Therapie (Depressionsgruppe), Abendrunde, Abendessen, vielleicht mal Grießbrei, schlafen. Medikamente. Lithium, Tavor, Nebenwirkungen, schnelle Abhängigkeit, aufgeklärt wird nicht. Wie hält man das aus? Weil es draußen noch schlimmer war, sagt Ditsch.
Jetzt ist es draußen nicht mehr schlimmer, Ditsch sitzt in einem Café in Berlin, sieht noch angeschlagen aus. Schmaler Mann, schmales Gesicht, ein Vogelgesicht, ein Falkengesicht mit wasserblauen Augen, angenehme Stimme, Ohrring. Einer, der sich treu geblieben ist, sagen Leute, die ihn gut kennen. Linken Themen treu geblieben, dem linken Umfeld, seiner Fotografie. Einer, der aufklären will „im ursprünglich journalistischen Sinne“, immer subjektiv, immer politisch.
Mit 21 Jahren ist er nach Berlin gezogen, das war 1983. Raus aus Hamburg, raus aus der Uniformität der saturierten Hansestadt. Hat sich hingekämpft zum Fotografieren, in einem kollektiv organisierten Kulturprojekt gearbeitet, in der Bildredaktion einer Tageszeitung, dann hatte er es geschafft.
Und jetzt in der Klapse, so sagt es Ditsch, jetzt hat ihn das Fotografieren gerettet. Vor der Tristesse der Station, vor seiner Situation, vielleicht vor sich selbst. Der Wunsch, alles festzuhalten, was ihm „da drinnen“ begegnet, war groß. Ein wenig Aufklärung ist es auch, „den Leuten zeigen, unter was für Umständen Leute, die in eine psychische Notsituation geraten sind, versuchen müssen, ihren Platz im Leben wiederzufinden“.
Seine Kameras kann er nicht mitnehmen, also fotografiert Ditsch beiläufig, versteckt mit seinem iPhone. Er nutzt die Hipstamatic-Software auf dem Telefon, einen Effektfilter, der unter anderem die formale Anmutung von Polaroids imitiert. Retrokitsch, sagen manche zu diesem Filter. „Auf die ursprüngliche Fotografie umprogrammiert“, so nennt Ditsch das. Eine Ausdrucksweise, die, wie er sagt, einen Blick auf die Fotografie wirft, wie sie früher einmal war.
Nichts hat er arrangiert für seine Fotos, alles hat er so genommen, wie es war. Eine trostlose, anachronistisch anmutende Umgebung. Manche Patienten sind monatelang hier, manche kommen mehrmals im Jahr wieder. „Da wird man nicht gesund“, sagt der Fotograf. Man glaubt es ihm sofort.
Im Aufenthaltsraum der Station mit Fernseher. Ab 16 Uhr kann man sich die Fernbedienung beim Pflegepersonal abholen. Dann läuft die Glotze erst mal
Am Ende sei alles nur darauf ausgerichtet, dass man wieder funktioniert. Nicht in der Gesellschaft aneckt. Auch er, der immer anecken wollte in seinem Leben, die Gesellschaft verändern. Irgendwann haben sie sich gefragt, Ditsch und seine Patientenkollegen, wer eigentlich die Verrückten sind. Dann irgendwann haben sie sich geeinigt: Die Verrückten, das sind die in den weißen Kitteln, die hinter dem Zaun.
Ditsch ist raus, gesund ist er noch nicht. Er hat eine Klinik gefunden, in der er nicht verwahrt wird. „Wird schon. Ja ja“, sagt Ditsch, „das sagt man dann so.“ JANA PETERSEN