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Archiv-Artikel

Zeugen oder Helfershelfer?

GEDENKEN Haben die deutschen Militärs und Diplomaten, die während des Ersten Weltkrieges im Osmanischen Reich stationiert waren, tätige Mithilfe bei der Vernichtung der Armenier geleistet?

Der Völkermord

■ Rund 1,2 Millionen Armenier wurden im Zeitraum von Frühjahr 1915 bis Ende 1916 im damaligen Osmanischen Reich ermordet. Nach offiziellen türkischen Angaben galten sie als potenzielle Kollaborateure des russischen Kriegsgegners und mussten deshalb aus den Kriegsgebieten deportiert werden.

■ Fast alle internationalen Historiker, die über das Schicksal der Armenier gearbeitet haben, meinen dagegen, dass damals ein Völkermord verübt wurde. Die türkische Führung habe das Ziel verfolgt, nach dem Krieg ein ethnisch homogenes Reich zu errichten, in dem es keine „unzuverlässigen“ Minderheiten geben sollte.

■ Wichtigster Verbündeter des Osmanischen Reiches war das Deutsche Kaiserreich. Deutsches Militär war überall in der osmanischen Armee präsent, die deutsche Diplomatie über die Vernichtung der Armenier informiert. Trotzdem tat die Reichsregierung nichts, um den drohenden Genozid zu stoppen. Der Grund: Das Bündnis mit der Türkei dürfe nicht beschädigt werden. (jg)

VON JÜRGEN GOTTSCHLICH

BERLIN taz | Die deutsche Nation sei damals so etwas wie die letztwerte Instanz gewesen. Dem eigenen Wohl sei alles andere untergeordnet gewesen – auch der hunderttausendfache Mord an einer ethnischen Minderheit durch den eigenen Bündnispartner, erklärt der Marburger Historiker Ulrich Sieg bedauernd. Zuvor hatte Ashot Hayruni von der armenischen Staatsuniversität Jerewan ausgeführt, das Kaiserreich sei durchaus in der Lage gewesen, den Völkermord an den Armeniern zu stoppen – wenn es ernsthaft gewillt gewesen wäre, zu intervenieren.

Es ist eine mühsame und schmerzliche Debatte, der sich in den letzten 3 Tagen rund 25 Wissenschaftler und Publizisten auf dem Kongress zur Frage nach der „Deutschen Zeugenschaft eines Jahrhundertverbrechens“ gestellt haben. Schon der Titel der Veranstaltung – der ersten dieser Art in Deutschland – deutet die Ambivalenz der Diskussion an.

Waren die deutschen Militärs und Diplomaten, die während des Ersten Weltkrieges im Osmanischen Reich stationiert waren, lediglich Zeugen des Genozids? Haben sie sich durch unterlassene Hilfeleistung mitschuldig gemacht? Oder gar tätige Mithilfe bei der Vernichtung der Armenier geleistet? Die Meinungen dazu gehen bislang weit auseinander.

Ist schon der Völkermord an den Armeniern als solcher (siehe Kasten) in der deutschen Öffentlichkeit ein eher unterbelichtetes Thema, so gilt das erst recht für die Frage, welche Rolle das Kaiserreich dabei gespielt hat. Es ist das Verdienst des Potsdamer Lepsiushauses, dass der Kongress im Deutschen Historischen Museum Berlin sogar so etwas wie einen halboffiziellen Charakter bekam. Auf Initiative von Rolf Hosfeld, dem wissenschaftlichen Leiter des Lepsiushauses, nahm Museumsdirektor Alexander Koch die Veranstaltung in sein Programm auf. Schließlich, so Hosfeld, gehöre zum Auftrag seines Hauses ja auch die Beleuchtung der dunklen Kapitel der deutschen Geschichte.

Dunkelstes Kapitel des Ersten Weltkriegs

Und der Massenmord an den Armeniern im Osmanischen Reich ist zweifellos eines der dunkelsten Kapitel des Ersten Weltkrieges, selbst angesichts der Gewaltexzesse, durch die der erste Große Krieg des 20. Jahrhunderts insgesamt gekennzeichnet war. Ging es hier doch nicht um die Gewalt auf dem Schlachtfeld, sondern um die Vernichtung einer hilflosen Zivilbevölkerung, der die damaligen türkischen Machthaber grundsätzlich misstrauten.

Warum hat Deutschland nichts getan – obwohl es doch der stärkere und einflussreichere Partner im Bündnis war? Dass Reichsregierung, deutsche Diplomatie und militärische Führung genau wussten, was in Anatolien geschah, ist vielfach belegt. Mehrere Redner auf dem Kongress wiesen auf die Telegramme des damaligen Botschafters in Konstantinopel, Hans Freiherr von Wangenheim, hin. Der kabelte zwei Monate nach Beginn der – von ihm unterstützten – Deportationen nach Berlin: „Die Umstände und die Art, wie die Umsiedlung durchgeführt wird, zeigen, dass die (türkische) Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse zu vernichten.“

Doch Wangenheim stellte zwar fest, dass die eigenen Verbündeten gerade im Begriff waren, über eine Million Menschen zu töten – forderte die Reichsregierung aber nicht auf, zu intervenieren, und notfalls auch mit Sanktionen zu drohen. Nein, er begnügte sich mit einem müden Protest, von dem er selbst schrieb, er sei vor allem „für die Akten, damit man später sagen könne, wir hätten ja protestiert“.

Hans-Lukas Kieser, Schweizer Veteran der Forschung zum Genozid 1915/16, kam die Rolle zu, den Gründen für das Verhalten der damaligen deutschen Schlüsselfigur am Bosporus nachzugehen. Für Kieser war Wangenheim eine tragische Figur. Menschlich und politisch überfordert, sah der das massenhafte Töten zunächst nicht kommen. Und als er sich eingestehen musste, dass ein Völkermord stattfand, sei er im wahrsten Sinne des Wortes zusammengebrochen. Wangenheim starb im Oktober 1915 an einem Schlaganfall.

Ebenfalls kein Deutscher, sondern der Schweizer Militärhistoriker Carl Alexander Krethlow, analysierte ziemlich kühl, welche Rolle das deutsche Militär damals spielte. Danach waren Offiziere im osmanischen Generalstab für die Deportation der armenischen Zivilisten mitverantwortlich – aber ihnen war zu Beginn nicht klar, dass die türkische Führung deren systematische Vernichtung anstrebte. Offiziere der mittleren Befehlsebene trugen zur Umsetzung des Deportationsbefehls bei – allerdings in dem Glauben, es ginge „nur“ um eine Umsiedlung.

Krethlows Fazit ist bedrückend: Auch als den Deutschen klar wurde, dass der osmanische Staat tatsächlich die Ausrottung der Armenier anstrebte, hätten selbst diejenigen Offiziere, die über genügend Einfluss verfügten, nur sehr partiell versucht, Morde zu verhindern. „Grundsätzlich ließ man sich aus Rücksicht auf das sowieso angespannte deutsch-osmanische Verhältnis auf Konflikte mit der osmanischen Führung nicht ein.“

Es blieb Christin Pschichholz von der Uni Potsdam vorbehalten, darauf hinzuweisen, dass die deutsche Untätigkeit nicht nur mit persönlichen Unzulänglichkeiten der Verantwortlichen erklärt werden könne. Dasselbe gelte für die Behauptung der Reichsregierung, man könne sich einen Konflikt mit dem türkischen Bündnispartner nicht leisten. Deutschland führte den Krieg im Orient ja nicht zuletzt mit dem Ziel, die osmanischen Gebiete nach dem Krieg als informelles Protektorat übernehmen zu können. Auf dieser Basis sollte dann Großbritannien Konkurrenz gemacht und die zukünftige deutsche Weltgeltung untermauert werden. Da wollte man es sich mit seinen Partnern natürlich nicht verderben.

„Grundsätzlich ließ man sich aus Rücksicht auf das sowieso angespannte deutsch-osmanische Verhältnis auf Konflikte mit der osmanischen Führung nicht ein“

CARL ALEXANDER KRETHLOW, SCHWEIZER MILITÄRHISTORIKER

Die Bundesregierung schämt sich …

Eine solch unangenehme Wahrheit ist in der deutschen Politik aber noch lange nicht mehrheitsfähig. Nur wenige Tage vor dem Kongress in Berlin bekam die Bundestagsfraktion der Linken auf eine ausführliche Anfrage zum 100. Jahrestag des Genozids die aktuelle Position der Bundesregierung zur deutschen Verantwortung schriftlich überreicht. Vor zehn Jahren hatte das deutsche Parlament in einer gemeinsamen Entschließung aller Fraktionen die „unrühmliche Rolle“ des Kaiserreiches bedauert. Die Linke wollte jetzt genauer wissen, worin diese nach Auffassung der Bundesregierung bestand. Die Antwort: „Den Deportationen und Massenmorden durch das Osmanische Reich fielen nach unabhängiger Berechnung über eine Million Armenier zum Opfer. Die deutsche Reichsregierung war von Anfang an informiert. Als Kriegsverbündete des Osmanischen Reiches schwieg sie dazu und verbot Veröffentlichungen darüber. Dieses Verhalten muss uns noch heute mit Scham erfüllen.“

… eine deutsche Mitschuld aber sieht sie nicht

Scham ja – aber Mitschuld nein. Die Frage, ob es sich um einen Völkermord gehandelt hat, sollen nach Auffassung der Bundesregierung Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entscheiden. „Dabei ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Aufarbeitung der Massaker und Vertreibungen in erster Linie Sache der beiden betroffenen Länder Türkei und Armenien ist.“

Diese Bemühungen will man in Berlin zwar unterstützen, allzu sehr exponieren möchte man sich aber nicht. Auf die Frage, ob Vertreter der Bundesregierung an der zentralen Trauerfeier zum 100-jährigen Gedenken an den Völkermord im armenischen Jerewan am 24. April teilnehmen werden, heißt es: „Die Bundesregierung prüft derzeit die Möglichkeit einer Teilnahme“. Man darf aber wohl davon ausgehen, dass die Terminkalender von Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier an diesem Tag bereits anderweitig gefüllt sind.

■  Vom Autor ist soeben das Buch „Beihilfe zum Völkermord – Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier“ im Ch. Links Verlag erschienen