: Unterrichten, bis der Arzt kommt
Die Zahl der dauerkranken Lehrer ist in den vergangenen fünf Jahren um 75 Prozent gestiegen. Ursache dafür sei laut der Lehrergewerkschaft der hohe Altersdurchschnitt. Der Vertretungspool für Engpässe funktioniert nicht
Der Krankenstand unter den Lehrerinnen und Lehrern erreicht in diesem Schuljahr einen neuen Höhepunkt – 1.222 Kolleginnen sind derzeit wegen Langzeiterkrankungen als nicht verfügbar gemeldet. Dies bedeutet eine Steigerung um 75 Prozent seit November 2002, wie aus einer Antwort des Bildungssenators Jürgen Zöllner (SPD) auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion hervorgeht. In der Folge muss jede zehnte Stunde vertreten werden oder ausfallen.
Allein im vergangenen Jahr haben demnach 400 Lehrerinnen und Lehrer aus dem Klassenraum in den Krankenstand gewechselt. „Das sind die üblichen Altersbeschwerden – Rückenleiden, Krebserkrankungen, aber auch Burn-out-Syndrom“, meint Erhard Laube vom Verband der Berliner Schulleiter. Besonders die älteren Kollegen über 60 stießen an ihre Grenzen. Ein wichtiger Grund für den Anstieg des Krankenstandes sieht Laube im Wegfall der Altersteilzeit vor einem Jahr. Seitdem können Lehrer, die kurz vor der Pensionierung stehen, nicht mehr finanziell abgefedert in den frühzeitigen Ruhestand gehen.
Die Berliner Schullandschaft versammelt wie ein Biotop alle Probleme einer alternden Gesellschaft. Von den 28.700 Lehrerinnen und Lehrern sind fast zwei Drittel 50 Jahre und älter. Die Gruppe der über 60-Jährigen ist viermal so groß wie das Grüppchen derjenigen, die jünger als 34 Jahre sind. Neueinstellungen hat der Senat in den vergangenen Jahren nur spärlich genehmigt. Gleichzeitig herrscht Mangel an Nachwuchsfachkräften insbesondere in den naturwissenschaftlichen Fächern sowie bei Englisch und Spanisch.
In der vergangenen Woche hatte der Bildungssenator angekündigt, erstmals zweimal pro Schuljahr frisches Personal in die Schulen zu schicken. Im Februar sollen 118 Lehrer die Reihen der Altvorderen verstärken und jene ersetzen, die während des Schuljahres in Rente gehen.
Allerdings können sie den allgemeinen Altersdurchschnitt wohl nur um wenige Tage senken. „Am Problem ändert das nichts“, sagt Christoph Kohlstedt vom Gesamtpersonalrat der allgemeinbildenden Schulen. Das Projekt des Senators, alle Schulen verlässlich mit Personal auszustatten, sei gescheitert.
Zum Schuljahresbeginn hatte Zöllner erklärt, er wolle die Lehrerstellen zu 100 Prozent besetzen. Dafür hatte er unter anderem einen Vertretungspool einrichten lassen. Aus diesem können SchulleiterInnen kurzfristig Personal rekrutieren. Derzeit sind über 1.200 Akademiker mit und ohne Lehramtsstudium in der Datenbank registriert.
Doch neben vielen Karteileichen beherbergt der Pool kaum passende Lehrer. „Das ist eine Seifenblase“, meint der Sprecher der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Peter Sinram. Auf zwei bis drei Monate befristete Verträge schreckten ausgebildete LehrerInnen ab. Und Kohlstedt berichtet, dass die Kollegen bis zu 50 Leute anschrieben, um eine passable Vertretung zu finden. So sei ein Geologe, der über Gesteinschichten promoviert habe, schließlich als Lehrer an einer Schule für körperlich und geistig Behinderte eingestellt worden. ANNA LEHMANN