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Archiv-Artikel

uli hannemann, liebling der massen Alle Jahre wieder: Exakt am fünfzehnten November drehe ich zum ersten Mal die Heizung auf

Zunächst funktioniert sie nicht. Das kenne ich schon. Am fünfzehnten April muss ich an der Gastherme irgendwelche Rädchen gedreht und Knöpfchen gedrückt haben. Ab fünfzehnten April ist für mich nämlich Sommer – da wird nicht mehr geheizt. Das Prinzip regiert – die tatsächliche Temperatur spielt keine Rolle. Nach einer Weile finde ich alle Knöpfchen und Rädchen wieder. Endlich zischt und puckert die erste Wärme traulich durch die ungestrichenen Kupferrohre – es ist Winter.

Sommer und Winter. Heizung an und Heizung aus. Ich liebe diese Ordnung. Sie bringt Struktur in mein Leben. Ab heute wird geheizt, ab heute ziehe ich mich in mein inneres Schneckenhaus zurück. Winterschlaf. Lesen. Schreiben. Linseneintöpfe kochen. Linseneintöpfe essen. Stoßlüften. Ich gehe nicht mehr ans Telefon. Das Internet bleibt aus. Ich spreche nicht mehr oder blicke aus dem Fenster – draußen ist es ohnehin dunkel. Meine weitgehend einzige Verbindung zur Außenwelt wird bis zum fünfzehnten April der Fernseher sein. Der Fernseher ist mein Freund. Soeben spricht aus meinem Freund der RBB.

Der RBB weiß immer gut Bescheid. Außerdem ist dieser Freund im Freunde der ideale Sender für den Winterschlaf. Es dampft der Tee aus großer bunter Tasse, dröge schnarrt der RBB ins Ohr – hören wir einmal zu: „In der Regel“, doziert der RBB mit ungerührter Miene, „folgt auf einen zu warmen Oktober ein kalter Januar.“

Das fände ich ziemlich sensationell, wenn November und Dezember ausfielen, aber im ersten Moment auch schön. Dann wäre rasch wieder Sommer. Doch auf den zweiten Blick wären die Auswirkungen fatal: Ich denke, im spurlosen Verschwinden ganzer Wintermonate liegt eine der Hauptursachen für die Erderwärmung überhaupt. Die Gletscher schmelzen immer schneller; die Tulpenzwiebeln haben sich kaum im Humusbett geräkelt, schon heißt es wieder: „Sprung auf – marsch, marsch!“ Gestresste Blumen verblühen früher, neigen zu Nervenkrankheiten oder Aggressionen gegen Insekten. Vorigen Sommer hat mich, als ich sie streicheln wollte, einmal sogar eine Rose heftig in die Hand gebissen. Viele Blumen fangen auch an zu stottern und ihre Stängel einzunässen.

Natürlich litte ich selbst am meisten unter meiner persönlichen Klimaerwärmung: Die Zeit der Besinnung und des Schneckenhauses wird immer kürzer, die Phase hysterischer Freiluftgelage immer länger. Keine Atempause. Die traditionelle Ordnung wäre gestört, die da lautet: Am fünfzehnten November Heizung, Depression und dicke Kleidung an; Libido aus; Klappe zu. Am fünfzehnten April Heizung aus; Badehose an; Mundwinkel hoch; Mädchen hinterher.

Und nicht nur mein Jahr sucht Halt im selbst gefügten Rhythmus der Zäsuren, sondern mein gesamtes Dasein: Jede Nacht gehe ich um zwei ins Bett, jeden Morgen stehe ich um zehn auf. Jeden Dienstag und Sonntag lese ich vor. Ich trete niemals auf die Ritzen zwischen den Gehwegplatten.

Ohne solch ein festes Gerüst aus Ritualen, Regeln und Gewohnheiten wäre ich verloren, ein Staubkorn im Sturm des Chaos, eine Nussschale auf dem unendlichen Ozean aus Pisse, den schwachsinnige Romantiker „Leben“ nennen. Neben dem Schreibtisch röchelt die Heizung – wie immer exakt auf Dreieindrittel.