: Der Westen ist erlebnisgeil
URAUFFÜHRUNG Der russische Dramatiker Iwan Wyrypajew schrieb den dicht gewebten Text „Unerträglich lange Umarmung“ für das Deutsche Theater
Die Bühne wird umrahmt von einer gigantischen Plastikfolie. Das ist New York. Später werden die SchauspielerInnen so lange an der Folie ziehen, bis sie ganz auf dem Boden liegt und dort eine chaotische Kunststofflandschaft bildet. Das ist Berlin. Ein raumhohes Metallgerüst, an dem die Folie zuerst befestigt war, dient später dem dramatischen Personal des Abends als Klettervorrichtung. Mehr# an Bühnenbild gibt es nicht.
Der russische Dramatiker Iwan Wyrypajew, aus Sibirien stammend und mit Wohnsitz in Moskau, hat auf Einladung des Deutschen Theaters ein Stück geschrieben, in dem er ein grundsätzliches Unbehagen am westlichen Großstadtleben formuliert. Allerdings ist „Unerträglich lange Umarmung“ in mancher Hinsicht vielleicht weniger ein Stück als vielmehr ein Zeige-Text, ein narratives Werk in dramatischer Umverpackung. Es wird darin weniger agiert als vielmehr vom Agieren erzählt, damit von vornherein eine grundsätzliche Entfremdung postulierend, die die Bühnenpersonen von ihrer wahren Identität trennt.
Ein Paar und zwei Passanten sind es, die sich im Laufe des Abends in wechselnden Konstellationen zusammenfinden und trennen. Zu Beginn sitzen alle vier auf Stühlen vorne am Bühnenrand, das Publikum direkt ansprechend. Das Paar, Monika und Charlie (Julia Nachtmann und Moritz Grove), beginnt mit einer Erzählung davon, wie Monika und Charlie Mann und Frau wurden, wie Monika ohne Wissen ihres Mannes eine Abtreibung vornehmen lässt, während Charlie Sex mit einer alten Freundin hat. Diese Freundin, Emmy (Franziska Machens), wird anschließend erzählen, wie Emmy in das beste vegane Restaurant New Yorks geht und dort den tschechischen Touristen Krystof (Daniel Hoevels) kennenlernt, den sie umgehend mit nach Hause nimmt, damit er ihr den Penis in den Po schiebt. Krystof erzählt seinerseits, wie umwerfend Emmy blasen kann.
Das alles wäre, auch wenn die sexuellen Zeitvertreibe der Personen herausfordernd explizit geschildert werden, für sich genommen nicht sehr sensationell. Bedeutung wird dem orientierungslosen Streben der Figuren nach dem Sich-lebendig-Fühlen vor allem dadurch zugewiesen, dass drei von ihnen eigentlich Osteuropäer sind. Monika stammt aus Polen, Krystof aus Tschechien, Emmy ursprünglich aus Serbien. Nur Charlie ist gebürtiger New Yorker, aber auch er wird sein Maß an existenzieller Fremdheit abbekommen, denn im zweiten Teil des Stückes landen drei der vier Figuren in Berlin.
Das scheint keine zwingende inhaltliche Notwendigkeit zu haben; Barcelona hätte es vermutlich auch getan. Hauptsache Westen. Und wie sonst ließe sich die dem eigentlichen Leben entfremdete, erlebnisgeile Seinsweise, die der Autor in den westlichen Metropolen vermutet, besser vorführen, als wenn man ein paar überforderte osteuropäische Emigranten hineinverpflanzt?
In Zeiten, da man sich zunehmend fragen kann, wie die Welt eigentlich von Moskau gesehen aussieht, ist diese die Menschheit immer noch bilateral aufteilende Sichtweise durchaus ein wenig erschreckend. Abgesehen davon, entwickelt Wyrypajews dicht gewebter, komplex strukturierter Text einen starken Eigensog. Ob es ein Text ist, der sich tatsächlich für die Bühne eignet, ist nach diesem Abend allerdings eher schlecht zu sagen, denn die halbherzige Bebilderung, die der Regisseurin Andrea Moses dazu einfällt, wirkt eher wie eine Notlösung.
Die DarstellerInnen, die enorme Textmengen bewältigen müssen, ziehen sich dabei sehr anständig aus der Affäre – am überzeugendsten Franziska Machens als Emmy, die die zahlreichen Textebenen so differenziert und durchlässig spricht, dass sie sicher auch für eine Hörspielfassung erste Wahl wäre.
KATHARINA GRANZIN
■ Wieder am 15. und 19. März im Deutschen Theater