: Stalins Schnurrbart
Martin Amis vermischt in „Koba der Schreckliche“ Privates und Historisches
VON KATHARINA GRANZIN
Wollte man mit dem Autor dieses Werkes ein Interview führen, müsste die erste Frage wohl lauten: Warum haben Sie dieses Buch geschrieben? Vermutlich bekäme man eine ebenso eloquente wie weitschweifige Antwort, und hinterher wäre man so klug wie zuvor. Denn wenn der Autor eine gute Antwort auf diese Frage wüsste, hätte das Buch selbst sie bereits hinreichend beantwortet.
„Koba the Dread“ erschien im englischen Original bereits 2002, aber auch vor fünf Jahren wäre die Frage dieselbe gewesen. Auch heutzutage besteht immer noch – oder mehr denn je – guter Grund, sich literarisch mit der Stalinzeit und dem gescheiterten Experiment Sowjetunion auseinanderzusetzen. Ob der Leser davon profitiert, hängt aber sehr davon ab, ob es gelingt, das historische Thema auf überzeugende oder überraschende Weise neu zu interpretieren. Ein Historiker würde das zumindest versuchen; von einem Romancier darf man es wohl nicht unbedingt erwarten. Aber was dann?
Martin Amis hat so einiges gelesen. Nicht zuletzt die Werke seines guten Freundes, des renommierten Historikers Robert Conquest, der sich ein Forscherleben lang am Terror in der Sowjetunion unter Lenin und Stalin abgearbeitet hat und 1986 mit „The Harvest of Sorrow“ ein epochales Werk über die Hungersnot in der Ukraine 1932/33 vorlegte. Ja, es ist entsetzlich, was Amis und Conquest schildern: der bewusst ausgeübte Terror der Bolschewisten, die Bauern gezielt auszuhungern, um sie für die Ziele der Revolution gefügiger zu machen; die Erschießungen, die Denunziationen, ja der Kannibalismus. Betroffen macht auch Amis’ Wiedergabe anderer Lektürefrüchte, besonders der Werke jener russischen Schriftsteller, die den Gulag überlebt haben. Ja, denkt man, Warlam Schalamow sollte man unbedingt lesen, Solschenizyns „Archipel Gulag“ eine zweite Chance geben und Jewgenija Ginzburgs „Marschroute eines Lebens“ wieder hervorholen. Ja, all das ist wichtige, bewegende Literatur. Aber warum wird uns das hier eigentlich erzählt? Dazu noch in diesem erregten Ton gerechter Empörung? Gibt es in der britischen Öffentlichkeit heutzutage vielleicht so starke stalinistische Tendenzen, dass es nötig geworden ist, mit solchem Nachdruck an das Grauen jener Zeit zu erinnern? Doch wohl kaum.
Dieses Buch – dessen Schicksal es hier bleiben muss, einfach „Buch“ genannt zu werden, da es schlicht in keine Kategorie passt – trägt den Untertitel „Die zwanzig Millionen und das Gelächter“. Amis fragt, warum es der Welt stets möglich gewesen sei, über den „großen Schnurrbart“ zu lachen, über den „kleinen Schnurrbart“ hingegen nicht. Dass er, indem er Hitler zum „kleinen Schnurrbart“ verniedlicht, jenen gleichsam zum Juniorpartner eines Komikerduos macht und seiner eigenen Grundthese damit immanent schon selbst widerspricht, ist nur ein Indiz dafür, dass der Autor seiner eigenen Fragestellung nicht wirklich gewachsen ist. Vielleicht ist es ihm auch gar nicht wirklich ernst damit. Denn er verwendet zu wenig Aufwand auf die gedankliche Durchdringung dieser an sich ja interessanten Behauptung. Hingegen werden mit sehr viel Sorgfalt die stalinistischen Gräuel und die abschreckenden Eigenarten des Diktators selbst dargestellt. Dabei liegt die Leistung des Erzählers Martin Amis vor allem in dem zornigen, seltsam polemischen Furor, mit dem er die doch schon längere Zeit toten Bolschewisten angeht. Diese spürbare emotionale Bewegtheit des Autors gibt dem Buch starken Drive. Allerdings war der gelernte fiction writer mit so viel Schwung bei der Sache, dass er es meistens versäumt anzugeben, nach welchen Quellen er gerade zitiert.
Das Private und das Historische kommen in diesem Buch zusammen, was zunächst einmal kein Manko sein muss. Es hätte vielmehr Anlass für eine hochinteressante Auseinandersetzung mit der naiven Gutgläubigkeit sein können, die westeuropäische Intellektuelle dem real existierenden Stalinismus gegenüber lange entgegengebracht haben – wie zum Beispiel auch Martin Amis’ Vater, der 1922 geborene Schriftsteller Kingsley Amis, der nach dem XX. Parteitag und der Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956 zum Antikommunisten wurde. Die eindrucksvollste im Buch zitierte Anekdote, die das Gelächter angesichts von zwanzig Millionen Toten thematisiert, stammt denn auch aus den Memoiren von Kingsley Amis. Stalin höchstpersönlich hatte sich einst bei der griechischen Regierung über die „unmenschlichen“ Haftbedingungen beschwert, denen griechische Kommunisten unterworfen waren. Angesichts der realen Verhältnisse in sowjetischen Gefängnissen muteten sie jedoch vergleichsweise paradiesisch an. Kingsley Amis berichtet von den überlieferten Reaktionen sowjetischer Häftlinge, als diese von Stalins Beschwerde hörten: „Nach einigen Sekunden verblüfften Schweigens brachen die Gefangenen in hysterisches Gelächter aus. … Tatsächlich währte die euphorische Stimmung nicht nur ein paar Minuten, sondern, immer wieder kurz hervorbrechend, tagelang. Wenn ein Schläfer in der Nähe des Eimers einen Spritzer Urin abbekam, führte dies nicht zu dem üblichen Wutgebrüll oder Schlimmerem, sondern der Übeltäter brauchte nur zu rufen: ‚Immer mit der Ruhe, Genosse! Denk an die Leiden unserer griechischen Genossen im Kampf für den Frieden gegen den westlichen Unterdrücker!‘, und schon brach der andere in schallendes Gelächter aus.“
Als Kingsley Amis im Jahr 1995 starb, war er schon lange kein Kommunist mehr. Es gab keine ideologischen Gräben zwischen Vater und Sohn. Aber an wen richtet sich dann eigentlich dieses Buch, das mit einem offenen Brief an den Geist des toten Vaters schließt und, scheinbar zusammenhanglos, den Tod der geliebten jüngeren Schwester thematisiert? Versucht hier jemand, einen großen Schmerz zu betäuben, indem er lesend und schreibend durch ein wahres Meer des Leidens watet und dabei das eigene, recht private Leiden neutralisiert? Diese Fragen lassen sich durch normale Lektüre nicht beantworten. Vielleicht käme man mit einer psychoanalytischen Exegese weiter. Lesbar ist das Buch. Doch wird man dabei das Gefühl nicht los, man lausche einem etwas zu lauten Selbstgespräch.
Martin Amis: „Koba der Schreckliche. Die zwanzig Millionen und das Gelächter“. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Hanser, München 2007, 296 Seiten, 21,50 Euro