Alte Augen

Schritt halten mit Louis

Louis sagt: „Wir brauchen mehr Fallhöhe.“ Er redet immer häufiger so in letzter Zeit. Meine Wohnung ist plötzlich zu klein. Das Viertel ist zwar groß genug, aber mit zu vielen Pärchen. Ganz zu schweigen von den Kindern. Eigentlich stimmt es mit der ganzen Stadt „vorne und hinten nicht mehr“. Meist kann man das mit einem Grinsen und einem doppelten Wodka abtun, aber heute sieht Louis aus, als würde er ernst machen. „Ich bin erst letzte Woche in der Charité gewesen!“, versuche ich es. „Das zählt nicht. Das war ein Unfall.“ Schon hat Louis die Jacke angezogen: „Was ist, kommst du mit oder was?“

Louis läuft neben mir. Ich halte Schritt. Als ich in die Bar an der Ecke einbiegen will, fasst er mich am Arm und zieht mich weiter. Louis macht ernst. In dieser Nacht wechseln wir die Bars und die Stadtteile wie kratzige Pullover. Immer nur so weit eine Taxi-Kurzstrecke reicht und dann raus aus dem Wagen und rein in den nächsten Club. Die gerollten Taschentuchfetzen zieht er mir aus den Ohren, obwohl er weiß, dass mein Tinnitus am nächsten Tag kaum auszuhalten sein wird und er für eine ununterbrochene Geräuschkulisse sorgen muss.

Der Arzt hat gesagt, meine Augen seien rund 50 Jahre älter als ich, also um die 80. Louis sagt, ich sei total kaputt, Tinnitus, 80 Jahre alte Augen, das sei der totale Verfall, da helfe auch keine Watte in den Ohren mehr. Langsam bewegt Louis sich auf den Rand der Tanzfläche zu. Die ersten Klänge von Elvis’ „Crying in the Chapel“ erklingen. Louis sinkt an der Seite in sich zusammen, bis er auf dem Boden sitzt. I’ve searched and I’ve searched but I couldn’t find no way … Für einen winzigen Augenaufschlag schaue ich in die Diskokugel. Danach ist Louis verschwunden.

ANNE KÖHLER