: An den Grenzen der Zeugenschaft
THEATER Hans-Werner Kroesingers Inszenierung „Musa Dagh – Tage des Widerstands“ nach Franz Werfels Roman über den Völkermord an den Armeniern ist Teil eines Gedenkprogramms am Gorki-Theater in Berlin
VON INGO AREND
Eine „ungeheure Verantwortung hängt daran“. Mit quälenden Worten beschrieb Franz Werfel im März 1933 in einem Brief sein neuestes Projekt. Auf einer Nahost-Reise mit armenischen Waisenkindern in einer Teppichfabrik in Damaskus konfrontiert, entschloss sich der österreichische Schriftsteller, einen Roman über die Ausrottung von deren Volk durch das Osmanische Reich zu schreiben. Aus dem Pariser Kriegsministerium ließ er sich Protokolle zu den Gräueltaten kommen. Für „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ stützte er sich aber auch auf die Aufzeichnungen Dikran Andreasians’.
Der evangelische Pastor Andreasians wurde Zeitzeuge des Genozids, der am 24. April 1915 mit der Deportation von rund 200 Istanbuler Intellektuellen begann. Er hatte ein Tagebuch des Widerstands der 5.000 Armenier geführt, die sich aus fünf Dörfern am Fuße des Berges an der osmanischen Mittelmeerküste auf dessen Spitze geflüchtet hatten. Dort hofften sie der „Umsiedlung“ ihres Volkes zu entgehen, die hunderttausendfach mit dem Tod in den sengenden Wüsten Mesopotamiens endete.
Glutkern Verantwortung
Werfels Schreibentscheid ist die Urszene einer Kunst in gesellschaftlich-moralischer Verantwortung. Wo Politik und Historiografie schweigen, geht der Schriftsteller ans Werk. Er übernimmt Verantwortung vor der Geschichte, praktiziert die Verantwortung der Kunst. Und in der von dem 1941 in die USA emigrierten Juden Werfel bemühten Vokabel schwelt auch der Glutkern des ambitionierten Projekts „Schnee im April“, das bezeichnenderweise das kleinste, aber lebendigste der Berliner Stadttheater stemmt.
Hatte die schwarz-rote Bundesregierung kürzlich erklärt, sie überlasse die Bewertung der „geschichtlichen Ereignisse“ von 1915 Wissenschaftlern, und die Ausrichtung einer Gedenkveranstaltung zu dem Genozid abgelehnt, hat das Maxim Gorki Theater vergangenes Wochenende das brisante Thema eigenhändig aufgerollt. Der Titel des Projekts nimmt eine Zeile des armenischen Komponisten Komitas Vardapet auf, der den Genozid überlebte. Und das Haus spricht die regierungsamtlich sorgsam umschiffte Vokabel klar und vernehmlich aus.
„Von Jugend an begleitet mich der Völkermord als Wunde in der Geschichte“, begründet die türkischstämmige Intendantin Shermin Langhoff den Schwerpunkt: Sechs Wochen lang kreisen Lectures und Filme, Kunst, Konzerte und natürlich Theater in dem Haus in der historisch kontaminierten Berliner Mitte um den, auch von der Türkei bis heute verleugneten, planvollen Mord an 1,2 Millionen Armeniern – schon für sich ein Vorgang von symbolpolitischer Brisanz.
Ausgerechnet den Dokumentaristen Hans-Werner Kroesinger mit der Inszenierung des literarischen Zentralwerks der armenischen Tragödie zu betrauen, erwies sich als brauchbare Idee. So sehr Werfels Roman dem Widerstand der Armenier ein bewegendes Denkmal setzt, trieft er doch von Pathos und Kitsch. Wie dieser Zugriff auf das Thema scheitern kann, hatte vergangenes Jahr der Filmemacher Fatih Akin mit seinem Genozid-Film „The Cut“ demonstriert.
Wie man sich dem Abgrund des Grauens auf dem Aktenweg nähern kann, hatte der 1962 geborene Kroesinger dagegen schon 2006 am Berliner HAU demonstriert. In „History Tilt“ rekonstruierte er den Prozess gegen den jungen Armenier Sologhmon Tehlirian, der Talaat Pascha, einen der jungtürkischen Drahtzieher des Völkermords, 1921 im deutschen Exil, auf der Berliner Hardenbergstraße, erschoss.
Pathos ausgenüchtert
Kroesinger hat Werfels schwülstigen „Musa Dagh“ zur mal historisch präzisen, mal locker improvisierenden Montage aus Zentralszenen des Romans und historischem Aktenmaterial ausgenüchtert. Gleich zu Beginn rasseln die Schauspieler in einem mit Ordnern vollgestellten und grauen Vorhängen umhängten Archiv aus einem Report des pazifistischen Dichters und Menschenrechtsaktivisten Armin T. Wegner Zahlen, Daten, Fakten über die Deportation der Armenier. Sie intonieren Redebeiträge deutscher Politiker von Markus Meckel bis Fritz Kuhn im Bundestag zu dem düsteren Geschichtskapitel.
Oder sie rezitieren die grausigen Beobachtungen über die Leichenberge, die der deutsche Konsul Litten während einer Bahnreise von Bagdad nach Aleppo reportiert hatte. Eine Schul-Landkarte der Türkei und eine große Stehlampe komplettieren das nüchterne Ambiente aus Geschichtsstunde, Verhör und beredter Anklage, die das Stück über weite Strecke bestimmt.
Regisseur Kroesinger bettet die literarische Vorlage also in den historisch-politischen Kontext ein. Und schließt mit zwei symbolischen Kunstgriffen zur Gegenwart auf. Die – deutlich dramatischeren – Szenen der Armenier auf dem Berg spielen in den hölzernen Streben eines unvollendeten Schiffsrumpfes. Damit symbolisiert die Inszenierung (Bühne: Valerie von Stillfried) das Denkmal, mit dem die Überlebenden des Musa Dagh an das französische Kriegsschiff erinnerten, das sie im September 1915 vor den Türken gerettet hatte. Das türkische Militär hatte das Mal nach dem Putsch von 1980 zerstört.
„Musa Dagh“ endet mit der Lesung der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag. Der amtliche Bescheid, die endgültige Aufarbeitung des Genozids sei „Sache der beteiligten Länder“, musste dem im Ohr klingen, der gerade noch das Zitat des deutschen Reichskanzlers Bethmann Hollweg gehört hatte, das einzige Ziel sei es, „die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht“.
Der Rest an Unfasslichem
Kroesingers Inszenierung schießt sich zu Recht auf diese verdrängte deutsche Mitschuld, Mithilfe an dem Genozid ein. Aus dessen universeller Dimension prägt sie so freilich innenpolitisch-didaktische Münze. Dass der Genozid aber die Frage nach dem Rest an Unfasslichem stellt, dass Ästhetik und Repräsentation an ihm regelmäßig scheitern (müssen), demonstrierte unmittelbar vor der Premiere die Pseudodokumentation „Ravished Armenia“.
Der 1918 in Hollywood gedrehte Film stellt das Schicksal von Aurora Mardiganian nach, wie sie es in ihrem gleichnamigen Buch beschrieben hatte. Im Alter von sechzehn hatte die Armenierin den Genozid überlebt und sich von anatolischen Sklavenmärkten in die USA gerettet. Die große US-Promotion-Tour für „Ravished Armenia“ brachte Mardiganian an den Rand des Wahnsinns. Als sie abbrechen musste, verpflichtete man sieben Doubles an ihrer statt. Heute existiert nur noch ein 22-minütiges Fragment des Films. Viele Zuschauer verließen ausgerechnet die Aufführung dieses frühen Beispiels eines kommerziell befeuerten Reenactments der bestialischen Massenmorde so betroffen wie vielleicht sonst nur Claude Lanzmanns „Shoah“.
Oder sie standen stumm vor Atom Egoyans Video-Installation „Auroras“ aus dem Jahr 2007. In den Schaukästen vor dem Gorki-Theater sahen sie sieben jungen Schauspielerinnen unterschiedlicher kultureller Hintergründe in die Augen. Der kanadisch-armenische Filmemacher hatte diese den Text von Mardiganians Erinnerungen mit ausdrucksloser Miene nachsprechen lassen.
Spätestens hier, außerhalb des Bühnenraums, mit der unbeantwortbaren Frage nach der ästhetischen Zeugenschaft des Unvorstellbaren, also der Verantwortung der Kunst konfrontiert, wurde der mit wohlwollendem Applaus aufgenommene Abend auch einer über die Grenzen des Dokumentartheaters.