Jede Stimme zählt

Fehler bei der Bremerhaven-Wahl: Während Staatsanwaltschaft gegen ihren Spitzenkandidaten wegen Wahlbetrugs ermittelt, streiten „Bürger in Wut“ vorm Wahlprüfungsgericht um eine Stimme

von BENNO SCHIRRMEISTER

Bremerhaven muss neu zählen. Das ist das Zwischenergebnis einer rund achtstündigen mündlichen Verhandlung vor dem bremischen Wahlprüfungsgericht. Die beiden Bremerhavener Wählervereinigungen B.H.V. und „Bürger in Wut“ hatten die Gültigkeit der Bürgerschaftswahlen vom 13. Mai angefochten.

Die B.H.V. war, weil sie laut Satzung ausschließlich Menschen mit erstem Wohnsitz Bremerhaven als vollgültige Mitglieder aufnimmt, nur zur Stadtverordnetenwahl, nicht aber zur Landtagswahl zugelassen worden: Hier ist ausschließlich von Belang, ob sich dieser Ausschluss hinreichend begründen lässt – es geht um Neuwahlen – oder nicht. In diesem Fall hielt sich das Gericht, das sich aus dem Präsidenten und Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichts sowie sechs Bürgerschaftsabgeordneten zusammen setzt, mit einer Einschätzung zurück. „Ich denke nicht“, so der B.H.V.-Vorsitzende Karl-Heinz Hoffmeyer, „dass das auf dieser Instanz positiv entschieden wird.“ Vorsorglich erkundigte er sich nach den Widerspruchsfristen. „Das kommt vor den Staatsgerichtshof“, kündigte Hoffmeyer an, nicht klein beigeben zu wollen.

Anders liegt der Fall bei den Bürgern in Wut. Sie waren denkbar knapp an der Fünfprozenthürde gescheitert: Sie erreichten 4,998 Prozent. Lediglich eine Stimme fehlte zum Bürgerschaftsmandat. Zornig mussten sie zu Kenntnis nehmen, dass der Bremerhavener Wahlbereichsleiter, Ulrich Freitag, ihren Antrag auf Neuauszählung ablehnte.Vollends in Rage versetzte sie dann, dass ihnen das Wahlamt den Einblick in die Protokolle der Wahlvorstände zunächst verweigerte: Erst nach einem Beschluss des Verwaltungsgerichts Anfang Juli durften sie die Unterlagen einsehen. Aus denen zogen sie Material für die gestrige Beweisaufnahme. Die ist nötig, denn im Fall der Wutbürger muss das Gericht Fehler beim Wahlablauf feststellen. Und muss diese noch gewichten – ob sie „mandatsrelevant“ sind, sprich, in diesem Sonderfall: Ob das gezählte Ergebnis um eine Stimme vom tatsächlichen abweichen könnte.

Die Einschätzung von BIW liegt auf der Hand. „Die Unregelmäßigkeiten“, so ihr Anwalt Andreas Reich, „sind aus unserer Sicht durch Neuzählung nicht heilbar.“

Ebenso plädiert ihr Spitzenkandidat Jan Timke für Neuwahlen in Bremerhaven. „Es ist wichtig“, sagte er auf Nachfrage, „dass hier korrekte Wahlen durchgeführt werden.“ Man darf das als eine zweideutige Äußerung werten. Denn, wie die Staatsanwaltschaft Bremerhaven auf Nachfrage bestätigte, wird gegen Timke ebenso wie gegen Anne Laue, Listenplatz 2 der BIW, ermittelt: Der Vorwurf lautet Wahlbetrug. Sie hatten als gemeinsamen ersten Wohnsitz eine Einzimmerwohnung von 16 Quadratmetern angegeben – in Bremerhaven.

Eine Deckadresse, um überhaupt bei den Wahlen antreten zu dürfen, so vermuten die Ermittler: Indiz dafür ist, dass Timke als Bundespolizist in Berlin stationiert ist. Laue wiederum hat wegen eines fehlenden Bremerhavener Wohnsitzes bereits ihr Mandat in der Stadtverordnetenversammlung abgeben müssen. Die polizeilichen Ermittlungen folgen allerdings, so ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Bremerhaven, „bisher nur einem Anfangsverdacht“.

Wer das Wut-Mandat wahrnähme, falls eine Nachzählung ergibt, dass die Bürger in Wut doch die fünf Prozenthürde überwunden haben, ist daher unklar: Für sich schließe er das aus, sagte Timke der taz.

Unregelmäßigkeiten, so viel ist klar, hat es auch bei den Auszählungen gegeben: Die Zeugenaussagen zeichneten ein Bild von teils angespannten Auszählsituationen, in denen die Wahlvorstände, vor dem Hintergrund der Landeswahlordnung gelesen, ärgerliche Fehler begingen: In einem Fall ließ man eine externe Beobachterin mitwirken, anderswo wirkte der Wahlvorsteher selbst bei der Auszählung mit – obwohl er nur kontrollieren darf. Und eine Wahlvorsteherin schwang sich mit den Unterlagen im Rucksack aufs Rad und fuhr gen Stadthaus – weil eine Differenz zwischen abgegebenen und ausgewerteten Stimmen nach mehrfachem Zählen nicht verschwand. Sie hätte im Raum bleiben und auf Hilfe aus dem Wahlamt warten müssen. „Aber soll man“, so Freitag, „künftig ausschließlich ausgebildete Juristen zählen lassen?“ Wenigstens für die Neuzählung, die das Gericht gestern abend in Aussicht stellte, wäre das gut.