: Wer auf der Dachterrasse als Weiße durchgeht
ENTDECKUNG Es beginnt wie ein Gesellschaftsroman und mündet dann in das Psychogramm einer Ehe im selbstbewusst bürgerlichen schwarzen Harlem der zwanziger Jahre: „Seitenwechsel“ von Nella Larsen
Es gibt hier einen zunächst fast konventionellen, dann aber schnell interessant vertrackt werdenden kleinen Roman zu entdecken. In den USA soll er, weiß zumindest Wikipedia, zum Kanon an den Hochschulen gehören. In Deutschland kannte man diesen 1929 geschriebenen Roman bislang noch gar nicht, ebenso wenig wie seine Autorin Nella Larsen. Mit „Seitenwechsel“ („Passing“ im Original) wurde nun erstmals ein Buch dieser 1964 verstorbenen Schriftstellerin ins Deutsche übersetzt.
Das Konventionelle ergibt sich aus dem Setting. Nachmittagstee auf der Dachterrasse eines Luxushotels, Benefiz-Tanzveranstaltungen, Cocktailpartys. Das Buch ruft die klassischen Schauplätze eines Gesellschaftsromans auf. Nur dass diese Motive in den soziologischen Bereich der schwarzen Elite hinübergespielt werden. Der Roman spielt weitgehend unter schwarzen Ärzten, Rechtsanwälten, Schriftstellern und vor allem deren Ehefrauen. Ganz nebenbei erhält man als Leser so Einblicke in die selbstbewusst bürgerliche schwarze Community von Harlem aus der Zeit zwischen den Weltkriegen.
Das Vertrackte ist schwieriger zu erklären. Jedenfalls steuert die Autorin ihre Hauptfigur zielsicher in ein psychologisches Dilemma. Ihre Freundin hat die „Seiten gewechselt“ (daher der Titel). Das heißt, sie gibt sich als Weiße aus. Das ist innerhalb der Eigenrealität dieses Buches noch gar nicht das Problem; wer in diesem Roman als Weiße „durchgeht“, benutzt das auch, um in Restaurants zu sitzen, in die Schwarze damals noch nicht eingelassen wurden, oder um Konzertkarten zu kaufen. Aber diese Freundin hat übertrieben und einen reichen weißen Rassisten geheiratet, der nun nichts von der schwarzen Großmutter in ihrer Ahnenreihe ahnt.
Das hätte den Stoff abgeben können für einen sozial engagierten Identitätsfindungsroman oder auch für eine Komödie. Aber stattdessen lädt Nella Larsen das alles noch durch das Psychogramm einer Ehe auf. Die Freundin nämlich beginnt ihren Seitenwechsel zu bereuen und will zurück in den Schoß der schwarzen Community. Aber statt sie mit offenen Armen zu empfangen, entwickelt die Hauptfigur die Paranoia, dass sie ihr den Ehemann ausspannen könnte, und tut, sich das selbst nur halb eingestehend, alles, um ihre Freundin von „ihren Leuten“ fernzuhalten. Während in ihrem Umfeld bereits viel auf Bürgerrechtsbewegung und Selbstverwirklichung zielt – die Freundin nimmt sich immer mehr, als ihr „zusteht“, der Ehemann würde am liebsten nach Brasilien auswandern, um dem Rassismus in den USA zu entfliehen –, tut diese Ehefrau immer noch so, als sei sie eine Figur aus einem spätviktorianischen Roman. Das Geschehen aus ihrer Perspektive zu erzählen, ist die vertrackteste Sache an diesem Buch.
Nella Larsen, Tochter einer Dänin und eines karibischen Einwanderers, hat nur zwei Romane geschrieben. Man beginnt beim Lesen von „Seitenwechsel“ schnell ihren gemeinen Witz und ihren Sinn für Szenen zu bewundern. Vielleicht gibt es ja auch „Quicksand“, ihren anderen Roman, bald in so schöner Ausstattung zu entdecken wie „Seitenwechsel“. DIRK KNIPPHALS
■ Nella Larsen: „Seitenwechsel“. Aus dem Englischen von Adelheid Dormagen. Dörlemann, Zürich 2011, 192 Seiten, 19,90 Euro