: Unbekannte Herausforderungen
KRIEG In „Testfall Ukraine“ suchen Schriftsteller und Publizisten Erklärungen für die neue Feindschaft zwischen Russland und Europa
VON BARBARA OERTEL
Ein Jahr ist es her, dass sich Russland handstreichartig die Halbinsel Krim einverleibte. Willfährige Helfershelfer waren ominöse anonyme „grüne Männchen“, deren wahre Identität als russische Soldaten Russlands Präsident Wladimir Putin dankenswerter Weise einige Zeit später selbst enthüllte. Der jüngste Bericht der OSZE über die Situation der Medien auf der Krim ist haarsträubend, jedoch angesichts der Verhältnisse im Mutterland nicht verwunderlich: Mittlerweile sind alle ukrainischen Medien abgeschaltet, Journalisten werden bedroht und bei ihre Arbeit behindert – kurzum: von Medienfreiheit keine Spur mehr!
Bekanntermaßen blieb es nicht bei der Krim. Seit Monaten tobt im Donbass ein Krieg, der mal euphemistisch verbrämt als „Krise“, mal fälschlicherweise als „Bürgerkrieg“ bezeichnet wird. Bei den Gefechten zwischen der ukrainischen Armee und sogenannten prorussischen Kämpfern, mit denen Moskau angeblich nichts zu tun hat, sind bislang über 5.000 Menschen getötet worden, wobei auch Zahlen von bis 50.000 im Umlauf sind.
Wie konnte es zu diesen Entwicklungen kommen, die mit friedlichen Massenprotesten auf dem Kiewer Maidan im November 2013 begannen, Ehen, Freundschaften sowie Familien zerbrechen ließen und zu den seit Jahrzehnten schwersten Verwerfungen zwischen Russland und dem Westen geführt haben? Wohin steuert die Ukraine? Und welche Rolle spielte und spielt dabei die EU?
An Antworten auf diese und verwandte Fragen versuchen sich 15 Schriftsteller und Publizisten in dem sehr informativen und lesenswerten Sammelband „Testfall Ukraine. Europa und seine Werte“, den Katharina Raabe und Manfred Sapper herausgegeben haben.
Leider unterbleibt jedoch genau dass, was der Titel suggeriert: eine vertiefte und kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der EU, die nicht erst seit der Minsker Friedensinitiative von Kanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten François Hollande zu einem Hauptakteur in der Ukraine-Causa geworden ist.
Lediglich der slowakische Politikwissenschaftler Stefan Auer setzt sich mit diesem Problem genauer auseinander. Dass Russland in diesem Konflikt so stark geworden sei, verdanke sich auch der Selbstgefälligkeit der EU. Diese habe sich mit Erfolg eingeredet, Europa sei in ein „posthistorisches“ Zeitalter eingetreten, in dem es keine Konflikte auf Leben und Tod mehr gebe, schreibt der Autor.
Die Selbstgefälligkeit sowie Fehleinschätzungen – nicht zuletzt der russischer Reaktionen auf eine Annäherung Kiews an Europa – sind das eine, das Fehlen einer konsistenten Strategie gegenüber den Nachbarn im Osten ist das andere.
Das zeigt sich insbesondere an der Östlichen Partnerschaft, die Auer als „gigantischen Misserfolg“ bezeichnet. Die Demokratisierungsinitiative, die Brüsseler Diplomaten seit ihrer Gründung hinter vorgehaltener Hand als „EU-Beitrittsverhinderungsprogramm“ bezeichnen, richtet sich an sechs Staaten (darunter die Ukraine), ohne allerdings ausreichend zwischen diesen zu differenzieren. Jetzt soll, so beschlossen es in der vergangenen Woche die EU-Außenminister in Riga, nachjustiert werden. Ein großer Wurf ist wohl nicht zu erwarten.
Dass die EU angesichts der Ereignisse in der Ukraine anfangs so hilflos wirkte und erst langsam aus ihrer Schockstarre erwacht, mag auch dem Umstand geschuldet sein, auf bis dato unbekannte Herausforderungen reagieren zu müssen. Dazu gehört zweifellos der von Russland in der Ostukraine geführte „hybride Krieg“ – ein Phänomen, dem der Politologe Herfried Münkler in seinem Beitrag nachgeht.
Anders als im Georgienkrieg 2008, in dem Russland seine Streitkräfte offen einsetzte, agiert der Kreml im Donbass subtiler. Dort würden Russlands Anhänger dosiert jeweils so unterstützt, dass die ukrainische Armee nicht die Übermacht gewinne. „Von ihrer potenziellen militärischen Überlegenheit machen die Russen jedoch keinen Gebrauch, sondern setzen zunächst auf eine schrittweise Infiltration und anschließend auf ein Offenhalten des Konfliktes“, notiert Münkler.
Dabei seien sie mitunter gar in die Rolle des Deeskalierers geschlüpft, in dem sie die Separatisten um die Einhaltung des Waffenstillstands baten. Dieser „hybride Krieg“ berge die Gefahr, das nach 1945 installierte Regime der Kriegsverhinderung auszuhebeln. „Insofern geht es im Konflikt um die Ukraine auch um die Grundzüge einer neuen Weltordnung.“
Auch wenn viele es noch nicht wahrhaben wollen: In der Tat geht es um weitaus mehr, als den künftigen Status der beiden selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Aber es geht auch darum, ob es der Ukraine nach der verpassten Chance der Orangen Revolution 2004 dieses Mal gelingt, einen neuen Staat aufzubauen und den Postulaten der „Revolution der Würde“ zum Durchbruch zu verhelfen. Will heißen: Ob die Machthaber, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz, wirklich den politischen Willen zu grundlegenden Veränderungen haben.
In diesem Zusammenhang hätte man sich in dem vorliegenden Sammelband auch eine kritische Würdigung der bisherigen Bilanz der Kiewer Regierung gewünscht. Denn da sind nach wie vor viele Fragen offen.
Warum ist beispielsweise immer noch nicht eindeutig geklärt, wer die tödlichen Schüsse auf die Demonstranten auf dem Maidan abfeuerte? Und wer dafür verantwortlich zeichnet, dass im vergangenen Mai im Gewerkschaftshaus in Odessa mindestens 46 Menschen bei lebendigem Leib verbrannten? Die Untätigkeit der Kiewer Regierung ist nicht nur eine Verhöhnung der Opfer, sondern nährt den Verdacht , dass es etwas zu verschleiern gilt. Das wiederum bedient perfekt die Putin’sche Propaganda von der Kiewer Junta, in der Faschisten ihr Unwesen treiben.
Wie diese Gehirnwäsche funktioniert, dieses Gift sich langsam in die Seelen der Menschen frisst und aus Freunden Feinde macht, beschreiben eindrucksvoll die drei russischen Autoren Arkadi Babtschenko, Elena Racheva und Irina Prochorova. Und aus allen Texten spricht auch Fassungslosigkeit darüber, wohin dieses Land unter Wladimir Putin gekommen ist.
Alles in allem leistet der Band „Testfall Ukraine“ einen wertvollen Beitrag, um einige der dunklen Flecken, die die Ukraine immer noch darstellt, zu erhellen. Die haben nicht nur Laien, sondern offensichtlich auch Experten wie der renommierte Osteuropahistoriker Karl Schlögel. Er sehe für sich selbst reichlich Nachholbedarf in Sachen Ukraine und werde noch einmal in die Schule gehen, bemerkt er in seinem Text über die Sprachlosigkeit der Historiker angesichts der Ukraine-Krise.
Es wäre sehr wünschenswert, dass auch einige der vielen selbsternannten Ukraine-Experten diesen Lerneifer entwickelten. Es würde einem jedenfalls viel geistiger Durchfall erspart bleiben.
■ K. Raabe, M. Sapper (Hg.): „Testfall Ukraine. Europa und seine Werte“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 256 S., 15 Euro