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Archiv-Artikel

Die kleine Wortkunde (Demokrat)

So ein Pech aber auch. Gerade die Linke tritt seit jeher für Volksabstimmungen ein, nicht nur auf Länder-, sondern auch auf Bundesebene. Für diese Demokraten bedeutet direkte Demokratie einen authentischen Ausdruck der Volksherrschaft, was schließlich Demokratie auf Deutsch heißt. Wohingegen Volksabstimmungen von rechten Demokraten mit Misstrauen beäugt werden. Sie gelten ihnen als Einfallstor für Demagogen, die trübe Leidenschaften bei den „Massen“ anheizen. Plebiszite, so das historische Argument, ebneten angeblich Hitler den Weg. Das stimmt zwar nicht, zeugt aber von demokratischer Besorgnis.

Dummerweise haben jetzt die Gegner des Projekts Stuttgart 21 die Volksabstimmung über den Austritt aus dem Projekt verloren und es hilft auch wenig, auf das undemokratisch hohe Quorum zu verweisen. Aber müssen jetzt die Gegner von Stuttgart 21, allesamt eigentlich Befürworter der direkten Demokratie, die Segel streichen?

Das zumindest erwartet die rechte Opposition von ihnen. Ihrer Meinung wäre es undemokratisch, nach der Niederlage in der Volksabstimmung an der Gegnerschaft zum Projekt festzuhalten. Plötzlich heißt es bei den Abstimmungssiegern „vox populi vox dei“. Es wäre traurig, wenn die Linken jetzt von Zufallsmehrheiten sprechen und behaupten würden, es ginge nicht um Mehrheit, sondern um Wahrheit. Denn das Ergebnis der Volksabstimmung anzuerkennen, bedeutet nicht, auf die eigenen Argumente und den Meinungskampf zu verzichten.

Die grünen Minister in der Stuttgarter Koalition haben sich in dem Dilemma, weiter gegen Stuttgart 21 zu sein, aber andererseits die Ergebnisse der Volksabstimmung zu respektieren, eine elegante Formel einfallen lassen: Sie wollen das Projekt „kritisch begleiten“. Begleiten klingt gut, es ist weniger als durchführen und erlaubt Kritik. Deren Umfang zu bestimmen, wird von den Kräfteverhältnissen im Stuttgarter Kabinett abhängen

Auch die zivilgesellschaftlichen Gegner von Stuttgart 21 können aus der Formel Nutzen ziehen. Auch sie werden künftig das Projekt „begleiten“.

CHRISTIAN SEMLER