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Archiv-Artikel

Erbschaft dieser Zeit

Brecht & Stalin

Bertolt Brecht hatte ein anderes Verhältnis zu Stalin als Bloch und Feuchtwanger. Er war weniger gläubig und naiv, dafür zynischer. 1930 hatte er mit dem Stück „Die Maßnahme“ die Logik des kommunistischen Terrors, der sich schließlich gegen alle richten muss, präzise analysiert.

Brecht hielt in den Dreißigerjahren Kontakt zu seinem marxistischen Lehrer Karl Korsch, einem entschiedenen Antistalinisten. 1934 hielt er die Sowjetunion für die Verwirklichung von Kafkas Albträumen und sah die Unterschiede zwischen der stalinistischen GPU und der Gestapo schwinden – allerdings nur im privaten Gespräch mit Walter Benjamin. Offiziell äußerte Brecht nichts Kritisches über Stalin.

Er wusste genauer als andere, was in der Sowjetunion passiert. Seine Bekannte, die Schauspielerin Carola Neher, wurde 1937 zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt, 1942 starb sie im Gulag. Brechts Versuche, sie zu retten, blieben halbherzig.

Öffentlich griff Brecht eher pflichtgemäß André Gide an und verteidigte Stalin mit dem Argument, dass „jene Diktaturen unterstützt und ertragen werden müssen, die ihre eigenen Wurzeln ausreißen“. Brecht wusste um die Diktatur und hoffte, dass der Sozialismus diese wundersam in Freiheit verwandeln würde.

1939 wurde sein Freund Sergej Tretjakow als japanischer Spion hingerichtet. Brecht schrieb: „Ist also schweigen das Beste?“ Und schwieg – machttaktisch begründet. SR

Viele westliche Intellektuelle feierten Stalin 1937 als Lichtfigur und Retter der Vernunft – von Lion Feuchtwanger über Dashiell Hammett bis zu Ernst Bloch. Warum?

VON STEFAN REINECKE

In den Moskauer Prozessen von 1936 bis 1938 ließ Stalin fast alle Revolutionäre, die sich 1917 als Bolschewiki an die Macht geputscht hatten, auslöschen. Sie wurden nicht nur ermordet, sie mussten zuvor in Schauprozessen, gefoltert und erpresst, gestehen, dass sie mit England, Hitler und Trotzki im Bunde standen, um die Sowjetunion zu vernichten. Die Prozesse und die Geständnisse der Angeklagten erschienen vielen im Westen als Rätsel.

Konnte es denn wirklich sein, dass sich die gesamte Elite der KPdSU, von Sinowjew über Karl Radek bis zu Nikolai Bucharin, gemeinsam mit der Führung der Roten Armee gegen Stalin verschworen hatten, unterstützt von ausländischen Mächten? Warum regierte Stalin trotzdem mit schrankenloser Macht? Die erfundene Opposition, die in den Moskauer Prozessen vernichtet wurde, erinnerte, so Isaak Deutscher später, an „den Niagarafall, der für den Antrieb eines Kinderschiffchens“ verwendet worden war. Doch viele wollten 1937 das Offenkundige nicht sehen.

Der entgrenzte sowjetische Terror tobte seit der Ende der Zwanzigerjahre beginnenden Vernichtung der Kulaken und fraß sich metastasenartig durch die Gesellschaft. Er kostete Millionen Menschen das Leben. Moralisch existiert kein Unterschied zwischen dem Terror der Hitlerregimes in den Vierzigerjahren und dem des Stalinismus. Gleichwohl verklärten Autoren wie Ernst Bloch und Lion Feuchtwanger die UdSSR zum Reich der Vernunft.

Lion Feuchtwanger, der von den Nazis ins Exil getriebene jüdische Literat, fuhr 1937 nach Moskau. Der Humanist, dessen Bücher „Jud Süß“ und „Die Geschwister Oppermann“ auch in Großbritannien und den USA reüssierten, schrieb in seinem Reisebericht: „Die Verehrung Stalins ist nichts Künstliches. Das Volk ist Stalin dankbar für Brot und Fleisch und Ordnung und Bildung.“ Zum Prozess gegen Radek und Pjatakow notierte er: „Wenn dieser Prozess arrangiert war, dann weiß ich nicht, was Wahrheit ist.“

Dass es außer den Geständnissen in den Prozessen keine Beweise gab, empfand Feuchtwanger nicht als gravierend. Das Beweismaterial sei, erfuhr er von Offiziellen, vorher geprüft worden – von wem, wollte er offenbar nicht wissen–, im Übrigen hätten Indizien, Dokumente und Zeugenaussagen das Volk nur verwirrt. Pjatakow gestand in dem Prozess, im Dezember 1935 nach Oslo zu Trotzki geflogen zu sein, um gegen Stalin zu konspirieren. Dass damals dort kein einziges ausländisches Flugzeug gelandet war, liest man bei Feuchtwanger nicht. Ebenso wenig, dass ein Angeklagter zugab, 1932 mit der Gestapo ein Komplott gegen Stalin geschmiedet zu haben, und diese üble Tat also erstaunlicherweise beging, bevor die Gestapo existierte.

Den Prozess schilderte Feuchtwanger als eine Art Oberseminar, eine „Diskussion gebildeter Männer, die sich bemühten festzustellen, welches die Wahrheit war. Ja, es machte den Eindruck, als hätten Angeklagte, Richter und Staatsanwälte das gleiche sportliche Interesse, die Geschehnisse lückenlos aufzuklären. Sie waren wie Ingenieure, die eine neuartige, komplizierte Maschine auszuprobieren hatten. Einige haben die Maschine verdorben. Doch was alle zusammenhält, ist das Interesse an der Maschine, die Liebe zu ihr.“ Angesichts der Beschimpfungen der Angeklagten als „Horde von Banditen“ und „Möpse und Kläffer“ war dies eine groteske Verzerrung.

Die Schauprozesse hatten unter den deutschen Exilanten wie ein Enzym gewirkt, das prosowjetische Autoren wie Ernst Bloch und Bertolt Brecht und Skeptiker scharf voneinander schied. Feuchtwanger, der kein Wort Russisch verstand, versuchte die Kritiker (und auch eigene Zweifel) so zu besänftigen: „Stalin, dieser gescheite, überlegene Mann, kann unmöglich die ungeheure Dummheit begangen haben, eine so plumpe Komödie aufzuführen, nur für ein Rachefest.“ Anders gesagt: Es konnte nicht sein, weil es nicht sein durfte. Feuchtwangers Loblied endete so: „Es tut wohl, nach all der Halbheit des Westens ein solches Werk zu sehen, zu dem man von Herzen Ja, Ja, Ja sagen kann.“

In der an Irrtümern und intellektuellen Debakeln so reichen Geschichte des 20. Jahrhunderts kommt dem Reisebericht Feuchtwangers, „Moskau 1937“, noch immer ein prominenter Platz zu. Denn dieser Text ist keineswegs plumper Agitprop, sondern ein abwägender Text, der auch Zweifel zu Wort kommen lässt. Gerade deshalb war er ein wirksames Mittel der Stalinisten, um ihre Gegner zu deprimieren und den stalinkritischen Reisebericht des französischen Linken André Gide „Zurück aus der UdSSR“ zu kontern. „Moskau 1937“ war eben keine Auftragsarbeit eines Parteiliteraten, sondern das Zeugnis eines unbestechlichen Linksliberalen, dessen Romane das Verhältnis von Geist und Macht ins Zentrum rückten.

Stellen wir uns kurz vor, ein integrer, Stalin entkommener russischer Literat hätte ein Loblied auf Hitler geschrieben und Freislers Volksgerichtshof gedankenvoll gepriesen. Welchen Schaden hätte dessen Ruf genommen? Warum also dieser monströse Irrtum?

Feuchtwanger wurde in Moskau nach allen Regeln der Kunst hofiert, eine Audienz bei Stalin inklusive. Sein Roman „Die Geschwister Oppermann“ wurde von Mosfilm aufwendig verfilmt. Bei Festbanketten traf er begeisterte Leser, die ihm ihre „grenzenlose Bewunderung“ entgegenbrachten. Das wirkte, gerade bei einem ins Exil getriebenen Autor, der von seinem Publikum abgeschnitten war. Hat sich Feuchtwanger schlicht bestechen lassen – nicht in Rubeln, aber dafür in einer Währung, die bei Künstlern zählt: Aufmerksamkeit und Bedeutung? Wahrscheinlich hat Eitelkeit eine Rolle gespielt – das Motiv war sie nicht. Feuchtwangers Blindheit war nur zum geringeren Teil ein moralischer Defekt. Es war eine intellektuelle Fehlleistung, ein optische Täuschung, die mehr als eine Ursache hatte.

Feuchtwanger stand keineswegs allein. Der Romancier Heinrich Mann, politisch ein Liberaler, der sich in Paris um ein Bündnis gegen Hitler bemühte, hielt die Moskauer Prozesse für „ein klassisches Ringen um die Wahrheit“. Und Stalin für einen wahrheitsliebenden Intellektuellen. Ernst Bloch, ebenfalls kein KP-Mitglied, ging noch weiter. 1938 schrieb er über Bucharin und Rykow: „Sie haben sich mit dem faschistischen Teufel verbündet. Sie sind politische Verbrecher und Schädlinge großen Ausmaßes geworden. Ihre Verbrechen sind objektiv die schwersten.“ Bis in die Terminologie „Schädlinge“ imitierte Bloch die Phrasen der Stalinisten und schönte Lenin und Stalin zu „Lichtgestalten der Liebe, des Vertrauens, der revolutionären Verehrung“. In den USA unterstützten 1938 prominente Autoren, darunter Dashiell Hammett, „die Urteile gegen die trotzkistisch-bucharinistischen Verrräter“.

Begreifbar ist diese gespenstische Sichtverengung nur, wenn man sich den Aufstieg des Nationalsozialismus vor Augen führt. André Gides gedämpft skeptischen Text über die Sowjetunion hatte das NS-Organ Völkischer Beobachter nachgedruckt, um ihn als antibolschewistische Propaganda zu benutzen. Dies brachte die alles durchdringende Machtlogik auf den Punkt: Wer Stalin kritisierte, nutzte den Nazis. Diese Mechanik war ein Grund, warum linksbürgerliche Nichtkommunisten wie Feuchtwanger Gide für einen Verräter hielten und Stalin für einen Helden.

Dass westliche Intellektuelle, die von Hitlers Aufstieg schockiert waren, Scheu hatten, Zitierfähiges für Goebbels zu liefern, ist mehr als verständlich. Zudem hielten viele Stalin für das einzige Bollwerk gegen Hitler: eine Einschätzung, die 1937 plausibel war. Der Westen verhielt sich abwartend gegenüber Hitler und ließ zu, dass Spanien den Faschisten in die Hände fiel.

Die Bedrohung durch Hitler war real, die politische Großwetterlage beklemmend, ein Krieg der Nazis gegen die Sowjetunion nur eine Frage der Zeit. Doch dies erklärt nicht die Rechtfertigung der Schauprozesse, auch nicht die Oden an Stalin, die zum Beispiel der britische Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw vor Hitlers Machtübernahme verfasst hatte.

Wer gegen Stalin ist, ist für Hitler – dies war keine Tatsache, sondern eine Konstruktion, eine dezisionistische Interpretation und ein Dramatisierungseffekt. Dass es möglich war, sich der selbst gestellten Falle „Hitler oder Stalin“ zu entziehen, zeigte der Anarchokommunist Victor Serge, der in der Sowjetunion verfolgt worden war, ehe er nach Frankreich abgeschoben wurde. 1936 schrieb er: „Wir bekämpfen den Faschismus. Wie aber können wir ihm mit so viel Konzentrationslagern im Rücken den Weg verstellen?“

Feuchtwanger und Bloch aber blieben unbeirrbar bei der Fahne. Die Not, Hitler im Nacken zu spüren, spielte eine große Rolle, Naivität und Machtliebe auch. Für Bloch war die KP eine Art geistige Heimat, die Sinn und Bedeutung garantierte. Er zog diese Existenz der Alternative vor, zum unbehausten, aufs eigene Selbst zurückgeworfenen Renegaten zu werden.

Begreifbar ist diese Realitätsverleugnung nur, wenn man sieht, was die Linksbürger an dem Diktator schätzten. Stalin erschien Bloch & Co. als Diktator der Vernunft, nicht nur als ein leidiges Übergangsphänomen, sondern als notwendig. Feuchtwanger und Heinrich Mann bewunderten Stalin als eine Art guten König, der den Volkswillen verkörperte und tat, was getan werden musste. Die Verehrung Stalins war eine Abfärbung des autoritären Parteikommunismus. Zudem wurde sie in den Dreißigerjahren vom „Traum von einem deutschen Stalin“ (Michael Rohrwasser) angetrieben. Denn „Stalin“ war auch eine Wunschprojektion, Ausdruck der Sehnsucht der Intellektuellen nach einem strengen Führer, der das Volk, von dem die deutsche Linke nach 1933 begreiflicherweise maßlos enttäuscht war, mit Gewalt im Zaum hielt.

Die Schuld von Bloch &Co war weniger moralischer Art. Sie haben vielmehr als Intellektuelle versagt und das Konkrete, Offensichtliche so lange umgedeutet, bis es zum Abstrakten, zur These passte. Bloch hat sich nie selbstkritisch mit seinem Stalinlob befasst. Es ist etwas offen, unbearbeitet geblieben.

STEFAN REINECKE, Jahrgang 1959, ist Autor der taz. 1996 verfasste er einen Essay über die Moskauer Schauprozesse: „Iwanowitsch Bucharin: Das letzte Wort des Angeklagten am 12. März 1938“ (herausgegeben von Sabine Groenewold, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1996, antiquarisch erhältlich)