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Archiv-Artikel

Vergessener Terror

Vor siebzig Jahren wütete in der Sowjetunion ein mörderisches Regime – das des Leninerben Stalin. Wie war das möglich? Ein taz.mag mit historischen wie aktuellen Erkundungen

VON CHRISTIAN SEMLER

„I told you so you fucking fools“ – ich hab’s euch gesagt, ihr beschissenen Idioten: Dies war das Motto, das Robert Conquest, Verfasser einer wichtigen Studie über die Terrorjahre 1936 bis 1938 in der Sowjetunion, einer Neuauflage seines Werks im Jahre 1990 voranstellen wollte. Conquest beließ es bei der Absicht, aber die Publikumsbeschimpfung wäre zu Recht erfolgt. Denn bei der Erstauflage des Buches Ende der Sechzigerjahre geriet seine Darstellung, die sich wesentlich auf veröffentlichte sowjetische Dokumente und Literatur von Emigranten stützte, ins Kreuzfeuer des Ost-West-Konflikts.

Viele derer auf Seiten der westlichen Linken, die bei aller Kritik in der Sowjetunion eine Stütze im Kampf gegen Imperialismus und Kolonialismus sahen, beurteilten Veröffentlichungen über den Massenterror der Stalinzeit ausschließlich nach dem Motto „Wem nutzen sie?“. Die Antwort: nur den herrschenden Machteliten des kapitalistischen Westens.

Fast zwanzig Jahre später ist von dieser Konfrontation kaum noch ein Hauch zu spüren – bei uns nicht und erst recht nicht in Russland. Es scheint so, als ob die gewaltige Erweiterung unserer Kenntnisse über das Stalin’sche Terrorsystem synchron mit einer steten Abnahme des Publikumsinteresses liefe. Daran änderte auch der kurz aufflackernde öffentliche Streit über das „Schwarzbuch des Kommunismus“ nichts, ein Sammelwerk hauptsächlich französischer Autoren, das 1998 in deutscher Übersetzung erschien.

Die Kritik an diesem Kompendium machte sich an dem untauglichen, weil unhistorischen, Versuch fest, quer über die Kontinente die Opfer „des Kommunismus“ zu einer Jahrhundertbilanz zu addieren. Prompt erfolgte die Gegenrechnung, die die Opfer des Kapitalismus seit der Zeit der ursprünglichen Akkumulation, also dem 16. Jahrhundert, zusammenzählte. Mit dem harten Faktenmaterial hat sich nur die Fachöffentlichkeit beschäftigt. Im Milieu der Linken obsiegte ein hoffentlich letztes Mal die Selbstimmunisierung durch Verweigerung der Kenntnisnahme.

Seit der Gorbatschow’schen Reformperiode und dem Ende der Sowjetunion hat die Forschung unser Bild vom Sowjetstaat in den Dreißigerjahren teils erweitert, teils korrigiert. Dazu trugen vor allem die folgenden Faktoren bei: die Öffnung der sowjetischen Archive mit Ausnahme der Geheimdienstbestände auch für Forscher aus dem Westen, selbst wenn diese Offenheit wieder in Teilen zurückgenommen wurde. Darüber hinaus trugen zu dieser Präzisierung des Bildes von der echten Sowjetunion die Arbeiten einer neuen Generation russischer Historiker bei – denen ging es in erster Linie um die Ausweitung der Faktenbasis.

Eine ganzer Reihe dieser Arbeiten ist im Westen – auch in der Bundesrepublik – erschienen, die russischen Autoren haben sich obendrein in die Diskussionen ihrer westlichen Kollegen eingefädelt und für einen genaueren Blick auf die Wirklichkeit der Stalinzeit gesorgt. Und schließlich das Wirken der Nichtregierungsorganisation Memorial, die, tapfer gegen die Mauer des Desinteresses in Russland ankämpfend, eine riesige Menge von Material zusammengetragen hat, nicht zuletzt durch die „Bücher der Märtyrer“, die, auf einzelne Orte bezogen, der Erinnerung an die Opfer gewidmet sind.

Was sind die wichtigsten Elemente, aus denen sich unser heutiger Wissensstand über den „großen Terror“ zusammensetzt? Wir haben von drei ineinandergreifenden historischen Ereignisketten zu sprechen. Erstens den drei großen Moskauer Schauprozessen zwischen 1936 und 1938, die gegen ehemals führende bolschewistische Funktionäre, darunter auch enge Kampfgefährten Wladimir Iljitsch Lenins, gerichtet waren und mit deren Erschießung endeten. Zweitens von einer Unterdrückungswelle gegen Parteikader aller Ebenen, darunter vor allem gegen Nomenklaturkader, also solche, deren Ernennung von der Parteiführung der entsprechenden Ebene zu bestätigen war. Diese Verfolgungen dauerten von Sommer 1937 bis ins Jahr 1939. Drittens den Massenrepressionen gegen ganze Bevölkerungsgruppen, die ebenfalls 1937 einsetzten und sich bis in den Zweiten Weltkrieg erstreckten.

Die Gesamtzahl der in den beiden Jahren 1937 und 1938 verhafteten Menschen wurde in den Sechzigerjahren seitens des Geheimdienstes KGB in einem Geheimbericht an das Zentralkomitee der KPdSU mit 1,5 Millionen angegeben. 1,3 Millionen dieser Menschen wurden von Sondergerichten verurteilt, und mehr als die Hälfte wurde erschossen. Diese Zahl wäre um jene Opfer zu ergänzen, die ohne jedes Verfahren umgebracht wurden, als bloße „Kriminelle“ von gewöhnlichen Gerichten abgeurteilt, oder die während des Transports zum oder im Gulag, den Zwangsarbeitslagern, starben. Nimmt man für den genannten Zeitraum eine Million Todesopfer und über drei Millionen zu Gulaghaft Verurteilte an, so ist diese Zahl wesentlich niedriger als die seinerzeit von russischen Dissidenten oder von Forschern wie Robert Conquest errechnete, aber immer noch erschreckend genug.

Die drei großen Moskauer Schauprozesse haben seit je die Fantasie der Menschen beschäftigt, vor allem die Geständnisse der Angeklagten, die oft als letzter Dienst an der Sache des Kommunismus interpretiert wurden. Wir wissen heute, wie sehr diese Geständnisse auch das Resultat von Folter waren.

Die wichtigste neuere Erkenntnis besteht aber in dem Nachweis, dass die Schauprozesse einer einheitlichen Regie und einem einheitlichen Drehbuch der Stalin’schen Zentrale folgten. Nach der Ermordung des Leningrader Parteisekretärs Kirow Ende 1934, heutiger Kenntnis nach die Tat eines Einzelnen, forderte Stalin von der Geheimpolizei die Aufdeckung der Verschwörung zum Mord an Kirow (und ein gegen ihn selbst gerichtetes Mordkomplott), die von dem längst entmachteten linken Oppositionellen Grigori Sinowjew im Bunde mit dem exilierten Leo Trotzki ausgeheckt worden sei.

Die Leitung der Geheimpolizei konnte zunächst keine Anzeichen einer solchen Verschwörung entdecken, beugte sich dann aber der Forderung Stalins. Im Einzelnen wurde das Drehbuch zur Zerschlagung dieser und der nachfolgend aufgedeckten vermeintlichen Verschwörungen von seinem engen Mitarbeiter, dem späteren Volkskommissar des Innern (NKWD), Nikolai Jeschow, erstellt und von Stalin ständig redigiert.

Im Zentralkomitee gab es zunächst Widerstand gegen die Verschwörungsthese, der aber im Lauf des Jahres 1937, vor allem nach der „Aufdeckung“ einer Verschwörung hoher Militärs und dem Plenum des Zentralkomitees im Februar/März 1937, verstummte. Die seit den späten Achtzigerjahren veröffentlichten Dokumente geben eher jenen Autoren recht, die die bestimmende Rolle der Zentrale hervorheben und bestreiten, dass der Massenterror ein sich spontan entwickelnder Prozess gewesen sei, der sich zum Schluss jeder Kontrolle entzogen hätte. Was freilich nicht bedeutet, dass unter dem Mantel zentraler Anweisungen nicht alte Rechnungen beglichen und – nach Denunziationen – Vermögenswerte der Verurteilten enteignet wurden: ein massenhafter Vorgang.

Wieso waren Stalin und seine Mitarbeiter der Auffassung, die längst um jeden Einfluss gebrachte, zu Kreuze gekrochene und isolierte Gruppe ehemaliger Oppositioneller sei in der Lage gewesen, Mordkomplotte und Sabotageaktionen großen Stils durchzuführen? Sicher ist der Hinweis auf zunehmend paranoide Züge in Stalins Psyche von Bedeutung, aber sein Drehbuch folgte einem rationalen Kalkül.

Gerade die behauptete Verbindung des „äußeren Feindes“ Trotzki zu angeblich nicht mehr zur Gemeinschaft der Sowjetmenschen zählenden „fremden“ Elementen erlaubte es der Stalinführung, vom Terror der Angeklagten als deren letztem Mittel zu sprechen. Wer Mordkomplotte plante und durchführte, hatte logischerweise auch keine Verbindung mehr zur sozialen Welt der Sowjetunion und deren Schwierigkeiten. Indem die linken Oppositionellen und später auch die ehemaligen Rechten, der „Block der Rechten und Trotzkisten“, zu Mördern und Saboteuren stilisiert wurden, lenkte die Stalin’sche Führung die Unzufriedenheit großer Teile der Arbeiter und Bauern mit ihrer sozialen Lage von den wirklichen Verursachern ab und präsentierte ein Feindbild, das noch dazu beliebig dehn- und auslegbar war.

Tatsächlich war das Jahr 1937 zwar eine Zeit des steilen ökonomischen Wachstums, aber gerade hierdurch verschärften sich die sozialen Probleme: Wohnungsnot aufgrund des Zustroms der bäuerlichen Massen in die Großstädte, Engpässe in der Versorgung, hohe Unfallziffern und Materialverschleiß als Folge erhöhter Arbeitsnormen. Die Stachanow-Bewegung für „freiwillige“ Höchstleistungen mit ihren ständig steigenden Anforderungen an die Arbeitsleistung des Einzelnen wirkte als zusätzlicher Stachel.

So galt es, mehr als nur ein paar Führungsfiguren dem Zorn der Basis zu opfern. Dies fiel der Stalinführung umso leichter, als sie nichts weniger im Auge hatte als eine „Kaderrevolution“. Schon länger glaubte Stalin, die Leitungsebene der mittleren und unteren Ebenen bestehe aus Leuten, die lethargisch geworden seien, sich auf ihren Verdiensten ausruhten und weder über die fachliche Kompetenz noch über den nötigen „bolschewistischen Schwung“ verfügten, ihre Arbeit zu bewältigen.

Wenn aber die alten Kader ausgetauscht oder degradiert wurden, war nach Einschätzung der Zentrale ein Riesenpotenzial Unzufriedener geschaffen. Daher der einfachste Weg: der Massenterror gegen Funktionäre, eine Methode, die auf die Unterstützung der „einfachen“ Parteimitglieder in ihrem Hass gegen die Bürokraten rechnen konnte. Für die Stalin’sche Führung war der Massenterror gegen die Funktionäre der eigenen Partei wohl das einzige Mittel, um die feudale, auf persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen beruhende Machtstruktur in den Regionen außerhalb Moskaus zu zerstören, ein Motiv, auf das zuletzt der Historiker Jörg Baberowski in seinem Werk „Der rote Terror“ aufmerksam gemacht hat.

Ursprünglich rekrutierten sich die Verhafteten aus einstigen Mitgliedern der linken oder rechten Opposition, aus Kadern, die sich irgendwann einmal Abweichungen von der Stalin’schen „Generallinie“ erlaubt hatten, und schließlich aus Genossen, die Beschuldigte der beiden ersten Kategorien kannten – Schuldige kraft Kontakt. Dabei wurden Netze konstruiert und Anschuldigungen erhoben, die mit dem jeweiligen Profil des Betriebs verbunden waren, zum Beispiel Spionage für ausländische Dienste in der Waffenproduktion.

Der russische Historiker Oleg Chewnjuk hat in seiner jüngsten Arbeit die einzelnen „Säuberungs“-Schritte anhand des Schicksals der Nomenklaturkader verfolgt, die im schwerindustriellen Bereich arbeiteten. Sein Befund: Die Hälfte von ihnen verloren ihr Leben. Und die Folge: Desorganisation und heftige ökonomische Verluste.

August 1937, Taschkent, Hauptstadt der Sowjetrepublik Usbekistan. Einheiten der Polizei des Innenministeriums sperren die Zugänge zu einem Markt ab, verhaften wahllos Käufer wie Verkäufer und verfrachten sie zum Verhör. Für ihre Aburteilung steht eine „Troika“ aus Funktionären der Staatsanwaltschaft, der Sicherheitsbehörde und der Partei bereit, ausgestattet mit außerordentlichen Vollmachten: Sie kann Todesurteile fällen und sofort vollstrecken lassen. Eine gerichtliche Nachprüfung der Urteile ist nicht vorgesehen. Was nötigt die usbekische Staatssicherheit zu diesem Wahnsinnsakt?

Zu Beginn des Juli 1937 hatte das Politbüro der KPdSU eine Direktive verabschiedet, die unter dem Namen „Befehl 00447“ in die Geschichte der Massenrepressionen eingegangen ist. Verfasst wurde diese Direktive vom Volkskommissar Nikolai Jeschow. Nach diesem Befehl konnte jeder ehemals als Kulak – reicher Landwirt – verhaftet und abgeurteilt werden. Weitere Opfergruppen kamen hinzu: jeder ehemalige Angehörige einer bürgerlichen, sozialistischen oder sozialrevolutionären Partei, jeder ehemalige Beamte des Zarenregimes, jeder Angehörige religiöser Sekten, jeder als kriminell Gekennzeichnete und schließlich verdächtige nationale Minderheiten wie die Polen und die Deutschen. Voraussetzung zur Aburteilung war nach den Direktiven des NKWD eine sogenannte fortgeführte konterrevolutionäre Tätigkeit. In der Praxis aber waren, wie der russische Historiker Alexander Watlin schreibt, „von entscheidender Bedeutung die Nationalität, Geburtsort, soziale Herkunft, Vorstrafen, Disziplinarverfahren und im Ausland lebende Verwandte“. Oft wurden die Verhörprotokolle samt Geständnis im Vorhinein verfertigt.

Eine Neuerung im Terrorsystem stellten die Kontingente dar. Aufgeschlüsselt nach den einzelnen Unions- und autonomen Republiken und Gebieten wurden Planzahlen der zu Verurteilenden festgelegt, die zu einem je bestimmten Termin zu erfüllen wären. Es wurde zwischen zwei Kategorien unterschieden: den zu Erschießenden und den zu langjähriger Haft zu Verurteilenden. Sippenhaft war zulässig, wenn von den Verwandten eine Gefahr für den Sowjetstaat ausgehen konnte.

Für Usbekistan hatte die Zentrale immerhin 4.750 Opfer festgelegt, darunter 750 zu Erschießende. Da die Zeit bis zum Abschluss der Aktion knapp bemessen und die Zahl der Repressionskandidaten niedrig war, stand die usbekische Führung vor einer schwierigen Alternative. Entweder beantragte sie in Moskau die Herabsetzung des Kontingents, was nach der Direktive möglich war. Diesen Weg ging beispielsweise die Parteiführung der jakutischen Autonomie, die das Verfahren mangels Verdächtiger nicht durchführen wollte, oder Karelien, wo man sich auf wenige Opfer beschränken wollte. Wenn dann aber dennoch Geständnisse erbracht wurden, setzte sich die örtliche oder regionale Führung dem tödlichen Verdikt mangelnder Wachsamkeit aus. Angesichts dieser Gefahr beschlossen die Verfolgungsbehörden Usbekistans, sicherzugehen und wahllos zu verhaften, um den Plan zu erfüllen. Tatsächlich schafften die meisten Republiken und Autonomien binnen kürzester Frist ihre Kontingente. Sie suchten dann in Moskau sogar um deren Erhöhung nach. Solche Gesuche wurden erwartet und prompt genehmigt.

Der Befehl 00471 wurde 1992 erstmals in der Moskauer Zeitung Trud veröffentlicht. Er ist das Grundlagendokument eines Massenterrors, der seit Sommer 1937 jeden Winkel des Sowjetreichs erfasste. Warum diese obsessive Jagd, bei der die ethnische oder soziale Herkunft, die vorrevolutionäre politische Orientierung oder einfach nur Verwandtschaft oder Bekanntschaft mit „Feinden“ zum einzigen Kriterium der Verfolgung gemacht wurde? Folgt man den damals veröffentlichten wie den jetzt bekannt gewordenen politischen Analysen der Führung, so stand für sie der künftige Angriff auf die Sowjetunion fest. Dieser Logik zufolge galt es, alle nur denkbaren Feinde, Überläufer und unsicheren Kräfte vorbeugend zu vernichten. Die Scheinrationalität dieses Vorgehens liegt auf der Hand, denn die Kollaborateure, aktuellen wie späteren, waren in der Regel gerade nicht an ihrer Klassenherkunft oder ihrer früheren politischen Orientierung zu erkennen. Der Feind wurde klassifiziert wie eine Spezies. Und diese Klassifizierung galt als so unwandelbar wie ein biologisches Merkmal.

Der allgegenwärtige Schrecken, den die Realisierung der Direktive hervorrief, kontrastiert mit dem erklärten Ziel der Stalin’schen Führung, einem durch Zwangskollektivierung und forcierte Industrialisierung erschöpften Land eine Atempause zu geben. Tatsächlich überkreuzen sich in den Jahren 1936 bis 1938 eine Propaganda, die zur ständigen Wachsamkeit gegenüber den antisowjetischen Feinden im Innern aufruft, und die gleichzeitige Feier der Sowjetunion als harmonischer Großfamilie, wohl versehen mit Rechten aus der neuen Verfassung von 1936, der „demokratischsten der Welt“ und mit dem väterlichen, notorisch kinderlieben Stalin an der Spitze. War das alles nur Fassade?

Zur Beantwortung dieser Frage beschritt im letzten Jahrzehnt eine Reihe von Historikern einen neuen Weg. Ihnen geht es darum, die Identitätsbildung, die „Techniken des Selbst“ der Sowjetmenschen, unter den Bedingungen des Terrors nachzuzeichnen. Anhand der Publikation von Tagebüchern, Briefen und privaten Aufzeichnungen aus den Jahren 1936 bis 1939 können wir heute besser verstehen, dass die bolschewistische Denkweise nicht nur ein Resultat bewusster, nur äußerlicher Anpassung war, sondern Bestandteil einer Populärkultur – wie der Stalinkult auch. Im Tagebuch des „Kulakensohns“ Stepan Podlubnyj, auf Deutsch erschienen und mit einer glänzenden Einleitung des Historikers Jochen Hellbeck versehen („Tagebuch aus Moskau 1931–1939“), findet sich der verzweifelte Versuch des illegal in Moskau lebenden jungen Mannes, sich in einen „neuen“, einen Sowjetmenschen, umzuerziehen. Der Versuch scheitert.

Und in dem jüngst erschienenen Sammelband „Stalinistische Subjekte“ zitiert der israelische Historiker Igal Halfin aus dem Tagebuch eines regimekritischen Studenten der Leningrader „Roten Professur“: „Kann es sein, dass ich das Wesentliche verfehlte, weil ich eine kleinbürgerliche, kurzsichtige Kreatur bin, unfähig, den leuchtenden Kern hinter den bloßen Erscheinungen zu sehen? Vielleicht sitzt ein kleiner, gelber Teufel in mir, der Klassenfeind, wenn ich diese Seiten schreibe?“

CHRISTIAN SEMLER, Jahrgang 1938, taz-Autor seit 1989, schrieb im taz.mag vom 30. Mai 1998 unter dem Titel „Das Elend linker Immunisierungsversuche“ über die niederschmetternde Bilanz sozialistischer Regime