: Obsessive Leidenschaften
„Ich bin böse, das ahnte ich schon immer“: Marguerite Duras’ „Hefte aus Kriegszeiten“ zeigen, wie die französische Schriftstellerin Erlebtes zu Literatur formte. Die Autorin des „Liebhabers“ offenbart Gewaltneigungen, Schmerz und Angstlust
VON JÜRGEN BERGER
Marguerite Duras hat stets die Trennlinie zwischen gelebten und fiktionalen Stoffen ignoriert. In der umfangreichen handschriftlichen Hinterlassenschaft findet sich der eindrucksvolle Beleg für dieses ästhetische Prinzip: ihre legendären vier „Hefte aus Kriegszeiten“, die die Schriftstellerin kurz vor ihrem Tod 1996 dem Pariser „Institut Mémoires de l’édition contemporain“ übergeben hatte und deren Edition jüngst auf Deutsch erschienen ist.
Es sind keine Tagebücher, sondern autobiografisch gefärbte Prosaskizzen. Sie zeigen, wie Marguerite Duras wurde, was sie war: Eine vor allem gegen sich selbst schonungslose Autorin, die ihren Familiennamen Donnadieu gegen den Schriftstellernamen Duras eintauschte, Leben und Leidenschaft als Blaupause für ihre Literatur nutzte und biografische Spuren kaum verwischte.
Duras dachte schon früh in Kategorien literarischer Verwertbarkeit, wie man in diesen zwischen 1943 und 1949 verfassten Skizzenbücher erkennen kann. Es war eine Zeit, in der die 1914 geborene Marguerite Duras um die dreißig war, gerade ihr erstes Kind bei der Geburt und den jüngeren Bruder im fernen Vietnam verloren hatte. Und es war eine Zeit, in der sie zusammen mit ihrem Mann Robert Antelme in der Résistance kämpfte und gegen Kriegsende wochenlang auf die Rückkehr ihres Mannes aus deutschen Konzentrationslagern wartete. Während des Kriegs war sie als Résistance-Angehörige an Verhören und Folterungen von französischen Nazikollaborateuren beteiligt. Sie lebte damals in äußerster Anspannung und testete, wie weit sie die schreibende Selbsterforschung treiben, wie sie die grausame Angst um Robert thematisieren und wie sie über die Lust am Schmerz schreiben kann.
Vor allem aber schreibt sie in diesen Heften über eigene Gewaltobsessionen. Sie entwirft das Psychogramm einer Frau, die als Mädchen von ihrem älteren Bruder geprügelt wurde, sich von der Mutter allein gelassen fühlte und einen kalten Blick auf sich selbst entwickelt. Das frappierendste Dokument aus dieser Zeit ist das erste Hefte: Im „rosa geäderten“ Schulheft beschreibt Duras das finanzielle Desaster der Familie nach dem Landkauf der Mutter im heutigen Kambodscha, bevor sie auf den reichen Chinesen zu sprechen kommt, den sie Mitte der Achtzigerjahre im Welterfolg „Der Liebhaber“ verewigt; nicht ihr bester, aber ihr berühmtester Roman. Dieses erste erinnernde Eintauchen in die indochinesische Atmosphäre der Jugend verknüpft sie mit der Selbsterforschung der erwachsenen Frau, die eine Folterung leitet. Der Mann soll Résistance-Kämpfer an die Nazis verraten haben. Sie feuert die Résistance-Aktivisten an, die die Wahrheit herausprügeln. Daran, dass sie mit der Frau sich selbst beschreibt, lässt Duras keinen Zweifel.
Vergleicht man die Erzählskizze mit den Textpassagen, die Duras Jahrzehnte später in „Der Schmerz“ (1985) übernommen hat, stößt man in der „Urfassung“ auf einen geradezu masochistischen Hang zur Selbstentblößung. Ihre Notate waren bereits im Rohstadium atmosphärisch so dicht, dass man die Texte oft hätte veröffentlichen können. Man sieht jedoch, wie sie später die brutale Direktheit mildert und Passagen streicht, die zu biografisch sind. „Ich bin böse, das ahnte ich schon immer. Endlich gab sie ihre ganze Bosheit her. Als sie klein war, hatte sie viele Schläge bekommen, sie hatte sie nie zurückgeben können, sie träumte, dass sie ihren älteren Bruder schlug“, sagt die Frau, die in der Prosaskizze den Namen Theodora trägt. In „Der Schmerz“ wird sie Therese heißen und diese Sätze nicht mehr sagen.
Eine ähnliche Tendenz zeigt sich auch in den Skizzen, aus denen „Der Liebhaber“ wurde. Auch da übernimmt Marguerite Duras vieles aus der ersten Niederschrift und lässt biografische Bezüge grundsätzlich stehen, bettet sie aber in weniger raue Umstände ein. Die Haut des chinesischen Geliebten etwa ist im Roman ein kleines Wunder an Reinheit und Sanftheit. In der Skizze war die Haut noch pockennarbig, der ganze Mann die „Lächerlichkeit in Person“ und die Liaison Mittel zum Zweck der Aufbesserung von Familienfinanzen. Sieht man heute, wie konsequent die Duras all die Beschreibungen gestrichen hat, die aus dem Chinesen einen hässlich, dümmlichen Galan machen, wird deutlich, warum den späteren Roman ein Hauch von Parfüm umweht und er literarische Klasse nicht wirklich erreicht.
Beide frühen Skizzen offenbaren, wie sich Duras kurz vor Kriegsende einer zentralen Quelle ihres Schreibens näherte: der „Angstlust“. Solchen Themen konnte sich Duras zu Beginn ihrer Karriere nach 1945 nicht sogleich stellen. Erst Jahrzehnte später überarbeitete sie die angeblich von ihr wiedergefunden Notate und arbeitete dabei Teile des dritten „Heftes aus Kriegszeiten“ in „Der Schmerz“ ein.
In diesem Heft finden sich vor allem die Passagen der Rückkehr Robert Antelmes 1945. In peinigender Genauigkeit beschreibt Marguerite Duras die körperlichen Qualen des fast verhungerten Mannes, durch dessen Hände man bei Sonnenschein durchsehen konnte. Er fängt dann doch wieder zu essen an; aus einem „Abgrund an Hunger“ heraus „lutschte“ er die Knochen eines Hammelkoteletts. „Nach siebzehn Tagen ermüdete der Tod“, schrieb Marguerite Duras.
Doch es gibt auch ganz anderen Skizzen in diesen Heften. So beschreibt sie eine schwüle Sommerfrische mit Freunden in Italien. In einer der ersten, bis heute unveröffentlichten Erzählungen unter dem Titel „Die Bibel“ erzählt Duras auf zwölf Seiten die Liebesgeschichte einer Schuhverkäuferin und eines Soziologiestudenten aus besserem Hause. Sie ist eine gute Zuhörerin und er ein Atheist, der wundersam aus der Bibel und vom Islam erzählen kann. „Sie schliefen miteinander. Sie hatte gerne Sex. Es war etwas, was sie gerne tat. Während sie miteinander schliefen, waren sie still. Nachher fing er wieder vom Leben des heiligen Jeremias zu reden an, der sein Leben damit verbracht hatte, die Bibel zu übersetzen.“ So dicht liegen bei Marguerite Duras die seelischen Abgründe neben der Glückseligkeit.
Marguerite Duras: „Hefte aus Kriegszeiten“. Aus dem Französischen von Anne Weber. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, 397 Seiten, 24,80 €