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Archiv-Artikel

„Ich habe bestimmt 200.000 Tote gesehen“

DER LEICHENKENNER Michael Tsokos leitet die Rechtsmedizin der Charité. Auf seinem Obduktionstisch landen erschossene Türsteher wie misshandelte Kinder. Vieles von dem, was ein Rechtsmediziner sieht, könne nicht gottgewollt sein, sagt Tsokos. Der Tod ist für ihn vor allen Dingen ein naturwissenschaftlicher Prozess

Michael Tsokos

■ Der Mensch: Michael Tsokos wurde 1967 in Kiel geboren. Nach dem Abitur ging er als Zeitsoldat zur Bundeswehr. Anschließend studierte er Medizin. Bis 2006 arbeitete Tsokos als Oberarzt an der Hamburger Rechtsmedizin. 2007 kam er nach Berlin und übernahm die Leitung der Rechtsmedizin an der Charité und des Landesinstituts für gerichtliche Medizin. Er hat fünf Kinder.

■ Der Medienliebling: Tsokos trat als Rechtsmediziner immer wieder öffentlich in Erscheinung. 2009 sorgte er für Aufsehen, weil er spekulierte, die Leiche von Rosa Luxemburg in den Kellern der Charité ausgemacht zu haben. Das ließ sich jedoch nicht beweisen. Auch im ZDF-Krimi „Die letzte Instanz“ mit Jan Josef Liefers taucht er auf – als Gerichtsmediziner. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er gemeinsam mit seiner Kollegin Saskia Etzold das Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“.

■ Die Ambulanz: Vor einem Jahr gründete Tsokos eine erste Gewaltschutzambulanz in Berlin, wo Opfer von Gewalttaten ihre Spuren gerichtsfest dokumentieren lassen können. Derzeit wird sie mit 150.000 Euro gefördert. Es gibt Pläne, die Anlaufstelle deutlich auszubauen. Doch noch ist eine Finanzierung unklar.

INTERVIEW ANTJE LANG-LENDORFF FOTOS DAVID OLIVEIRA

taz: Herr Tsokos, kann man sich an den Tod gewöhnen?

Michael Tsokos: Ich denke, ja. Ich erinnere mich noch gut daran, als ich meinen ersten Toten gesehen habe. Das war bei der Schneekatastrophe 1978 in Kiel. Da ist ein Mann vor mir tot umgefallen. Ich war damals zwölf Jahre alt. Meine Mutter ist Ärztin, sie hat versucht ihn wiederzubeleben, aber das war vergeblich. Den nächsten Toten habe ich in der Anatomie zu Gesicht bekommen während des Medizinstudiums. Seitdem habe ich bestimmt 200.000 Tote gesehen. Insofern hat der Tod für mich seinen Schrecken verloren.

Voll und ganz?

Zumindest, wenn ich mit Leichen zu tun habe. Natürlich nicht für mich selbst. Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich würde mich freuen, wenn noch ein paar Jahre drin wären.

Als Leiter der Rechtsmedizin an der Charité und des Landesinstituts für gerichtliche Medizin obduzieren Sie Leichen. Wie kommen Sie auf eine so hohe Zahl von 200.000?

Ich sehe Tote ja nicht nur im Obduktionssaal, sondern auch in Krematorien. Ich war zudem bei Massenexhumierungen im ehemaligen Jugoslawien und nach dem Tsunami in Thailand. Da kommt im Laufe von 20 Jahren, die ich nun in der Rechtsmedizin bin, einiges zusammen. Der Umgang mit dem Tod ist für mich etwas Alltägliches geworden.

Was genau ist der Tod für Sie?

Tod ist, wenn die Fäulnis kommt. Das ist ein rein naturwissenschaftlicher Prozess. Die Körper sind dann nur noch leere Hüllen, in denen der Pilot nicht mehr drin ist.

Und dieser Pilot, der verschwindet einfach?

Ja. Viele sagen ja, es gebe eine Seele. Ich glaube weder an ein Leben nach dem Tod noch an Wiedergeburt, auch nicht an Gott oder dass ich in den Himmel komme. Da ist für mich nichts.

Wollten Sie schon immer Rechtsmediziner werden?

Nein, als Kind habe ich viele Archäologiebücher gelesen, das fand ich toll. In der Schule war ich nicht gut. Ich habe nichts gemacht, keine Hausaufgaben, nichts gelernt. Gerade in Physik, Chemie und Biologie hatte ich nur Vieren und Fünfen. Ich führe das im Nachhinein darauf zurück, dass die Lehrer nicht den Punkt bei mir getroffen haben.

Wie kamen Sie dann auf die Idee, Medizin zu studieren?

Das hat sich so ergeben. In den 80er Jahren konnte man eine schlechte Abi-Note – ich hatte eine 3,0 – noch durch den Medizinertest ausgleichen. Da musste man nicht wie heute einen Notendurchschnitt von 1,0 haben. Außerdem war ich bei der Bundeswehr und wollte zwei Tage freihaben. Das ging, wenn man an diesem Test teilnahm. Ich schnitt als Zweitbester im Bundesgebiet ab und bekam sofort einen Studienplatz. Damit hatte sich dann auch die Archäologie erledigt.

Sie hätten genauso Hausarzt oder Onkologe werden können. Wann haben Sie entschieden, sich um die Toten zu kümmern statt um die Lebenden?

Bei der Vorlesung zu Rechtsmedizin. Die war spannend wie ein Krimi. Damals war die Rechtsmedizin auch noch nicht so bekannt. Es gab nicht jeden Abend im Fernsehen Serien wie „Der letzte Zeuge“ oder „Bones“. Was mich damals schon faszinierte, ist das Vorgehen. Ärzte stehen immer am Anfang. Sie befassen sich damit, welches Symptom als Nächstes kommt. Wir dagegen gehen vom Ende aus in der Kausalkette zurück.

Anhand von Spuren rekonstruieren Sie, was passiert ist. Gar nicht so anders als die Archäologen.

Ja, wir verfolgen die Dinge zurück. Ich werde manchmal gefragt, wie ich das aushalten kann, jeden Tag mit Toten zu tun zu haben. Ich dagegen könnte es nicht aushalten, mit Menschen zu arbeiten, die vor meinen Augen an Krebs sterben.

Wieso?

Als Onkologe kann es passieren, dass man morgens ins Zimmer kommt, und das Bett ist plötzlich leer. Ich habe kein persönliches Verhältnis zu den Leuten, die ich untersuche. Wenn man das hat, ist der Tod schwerer.

Gewöhnt man sich mit der Zeit an den Leichengeruch?

Nein. Aber Lebende stinken manchmal auch. Ich habe mal einen erschossenen Türsteher obduziert, der hatte Stinkefüße – so einen Geruch hatten wir im Obduktionssaal nie wieder. Wenn es richtig stinkt, dann dusche ich nach der Obduktion.

Wurde Ihnen bei der Arbeit schon mal übel?

Zum Glück nicht. Es stimmt übrigens gar nicht, dass wir ausschließlich mit Toten zu tun haben. Wir sehen zum Beispiel Drogenkonsumenten, um festzustellen, ob es einen Drogenmissbrauch gab. Wir untersuchen auch Tatverdächtige und Opfer, wenn es für die Aufklärung einer Straftat sinnvoll ist.

Seit einem Jahr gibt es an Ihrem Institut eine Gewaltschutzambulanz. Wer Opfer von Gewalt wurde, kann die Spuren gerichtsfest dokumentieren lassen. Was ist Ihre Bilanz?

Wir hatten gut zu tun. 382 Personen haben sich im ersten Jahr an uns gewendet. Die meisten wurden von Polizei, Jugendamt, Ärzten oder Frauenberatungsstellen an uns verwiesen. 175 davon haben sich die Verletzungen dokumentieren lassen. Das geht nur, wenn die Tat noch nicht länger als 72 Stunden zurückliegt. Viele Opfer von häuslicher Gewalt hatten wir hier, das sind in der Mehrheit Frauen.

Wie viele Kinder wurden zu Ihnen gebracht?

66 Jungen und Mädchen. Wobei man dazusagen muss, dass wir Kinder nicht untersuchen können, wenn nur ein Elternteil das will. Eine typische Situation ist, dass die Eltern sich getrennt haben: Das Kind ist am Wochenende bei dem Vater oder der Mutter, und der andere Partner sagt, dass es Verletzungen gibt, dass das Kind geschlagen wurde. Diese Untersuchungen dürfen wir nicht durchführen, weil beide Eltern das Sorgerecht haben. Das Jugendamt kann aber die Kinder während der zwei bis drei Stunden der Untersuchung in Obhut nehmen. Das war bei den 66 Kindern durchweg der Fall.

Welche Verletzungen wiesen die Kinder auf?

Da hatten wir das ganze Programm. Sowohl massive körperliche Misshandlung als auch Verletzungen, die so banal waren, dass kein Misshandlungsverdacht bestand. Wir können Leute auch entlasten, nicht nur belasten. Die ganz schlimmen Fälle sehen wir nicht in der Ambulanz, sondern in der Klinik. Da werden wir Rechtsmediziner dann hinzugezogen. Schwerste Schütteltraumata, wo Kinder blind oder taub zurückbleiben. Gebrochene Beine und Arme, Hirnblutungen.

Wie oft hat Ihr Institut zu Tode misshandelte Kinder auf dem Obduktionstisch?

Im Schnitt drei bis acht pro Jahr. Diese kindlichen Todesfälle lassen mich schlecht zur Ruhe kommen.

Diese Fälle beschäftigen Sie persönlich – trotz aller Routine?

Ja. Wenn ein 40-Jähriger besoffen mit einer Handgranate rumspielt und sich in die Luft sprengt ist das persönliches Pech – und ein gehöriges Stück Dummheit. Wenn ein 78-Jähriger nach einem Verkehrsunfall stirbt, ist das zwar auch kein natürlicher Tod. Er wurde gewaltsam aus dem Leben gerissen. Aber er hat ja vielleicht ein erfülltes Leben gehabt, zumindest ein langes. Wenn aber ein kleines Kind gerade durch die Hände derjenigen, die es beschützten sollen, zu Tode kommt, dann ist das für mich nach wie vor völlig unverständlich. Das geht tief. Daher kommt auch mein Engagement in diesem Bereich.

Sie unterstützen Kinderschutz-Initiativen, sind Botschafter des Deutschen Kindervereins und haben gemeinsam mit einer Kollegin ein Buch geschrieben mit dem Titel „Deutschland misshandelt seine Kinder“.

Ich finde, nach solchen Fällen wird viel zu häufig wieder zur Tagesordnung übergegangen. Die Tatsache, dass Kinder in der Regel von denen umgebracht werden, die sie beschützen sollen, finde ich genauso erschütternd wie die Tatsache, wie schnell so etwas wieder vergessen wird. Wobei ich nicht nur Misshandlung von Kindern als belastend empfinde. Auch wenn ein Kind im Swimmingpool ertrunken ist oder bei einem Unfall überfahren wurde, geht mir das nah. Kinder können Gefahren noch nicht so gut einschätzen. Wenn ein Kind stirbt, ist immer ein Erwachsener schuld. Derjenige, der aufpassen sollte, hat versagt.

Sie selbst haben fünf Kinder. Stellen Sie eine gedankliche Verbindung her zwischen den Kindern auf dem Obduktionstisch und Ihren eigenen?

Das habe ich einmal gemacht. 2002 ist mein ältester Sohn geboren. Drei Tage später habe ich ein Kind seziert, das am selben Tag zur Welt gekommen war. Ich war noch im Glückstaumel, das erste Mal Vater geworden zu sein. Und dann lag da ein anderes Kind, genauso alt wie meins und war schon wieder tot. Wer weiß, wie lange mein Sohn lebt, habe ich gedacht. Das weiß man einfach nicht. Da waren bestimmt auch Eltern, die sich auf ihr Kind gefreut haben. Und nach drei Tagen schon wieder Abschied nehmen mussten.

Sind Sie als Vater vorsichtiger als andere?

Ich bin auf keinen Fall übervorsichtig. Aber ich bin mir der Gefahren sicherlich sehr bewusst. Ich weiß, dass man an einer Steckdose, die keinen Schutz hat, tatsächlich sterben kann. Weil ich die Kinder gesehen habe, die bei den Großeltern eine Schraube auf dem Boden gefunden und reingesteckt haben. Ich weiß genau, welche Gefahr von Wasser ausgeht. Die Kinder sind am Gartenteich oder Pool, das Telefon klingelt, die Mutter rennt rein. Da reichen zwei Minuten, dann ist das Kind tot. Ich weiß auch genau, welche Gefahren von Höhen ausgehen. Weil ich die Kinder sehe, die das Fenster aufmachen und rausfallen.

Bei Ihnen zu Hause sind Fenster und Steckdosen gesichert?

Ja. Wir haben auch einen Rauchmelder in jedem Zimmer. Das ist aber, glaube ich, nicht übervorsichtig. Das sind Sachen, die eigentlich jeder normal gebildete Mensch berücksichtigen sollte.

Sie dürften mit Ihrem Job in Berlin schon gut beschäftigt sein. Warum melden Sie sich freiwillig, um auch noch Leichen nach dem Tsunami in Thailand zu identifizieren?

Ich habe da Sachen gesehen, die bekommt man als Rechtsmediziner sonst nicht zu Gesicht. Zum Beispiel haben die Thais nach dem Tsunami Leichen in Plastiksäcke gepackt. Am nächsten Tag waren diese Säcke wie Heißluftballons aufgebläht. Das ist das Fäulnisgas. Das ist für mich als Naturwissenschaftler interessant. Außerdem kann ich den Angehörigen helfen, indem ich die Toten identifiziere. Wenn die keinen Ort zum Trauern haben, keine Leiche zum Abschiednehmen oder irgendwelche Überreste im Sarg, dann können sie nicht anfangen mit der Trauerarbeit.

Hat die Masse der Toten, die Sie da gesehen haben, Ihren Blick auf die Welt verändert?

Nein, würde ich nicht sagen. Ich weiß eben, was es gibt. Ich halte die Menschheit oder die Gesellschaft deshalb aber nicht für schlecht.

Es gibt ein krudes Bild von uns Rechtsmedizinern, dass wir bei der Arbeit Brötchen futtern, Musik hören und alle einen Knall haben

Das geballte Grauen macht gar nichts mit Ihnen?

Ich meine: Die Leute haben es ja hinter sich. Und ich kann durch meine Arbeit den Angehörigen helfen, darüber hinwegzukommen. Mein Weltbild verändert das nicht. Ich glaube sowieso nicht an Gott. Das wäre als Rechtsmediziner auch schwierig. Was man bei unserer Arbeit sieht, ist mit dem Bild eines Gottvaters, der die Geschicke lenkt, alles nicht vereinbar. Es kann ja nicht gottgewollt sein, wenn ein Kind nicht nur stirbt, sondern davor noch 24 Stunden schwerste Schmerzen erleidet. Aber vielleicht lebe ich durch meine Arbeit ein Stück weit intensiver.

Die ständige Konfrontation mit dem Tod lässt Sie die Zeit bewusster genießen?

Ja. Weil ich weiß: Es kann sein, dass das hier jetzt das letzte Interview ist. Ich fahre im Auto vom Parkplatz und dann rollt der Sattelschlepper über mich rüber. Ich würde mich auch nicht mit meiner Frau streiten wollen. Es kann ja sein, dass sie stirbt. Ich fände es bedauerlich, wenn das Letzte, was wir voneinander hatten, ein Streit war. Auch mit anderen Menschen fände ich das bedauernswert.

Man kann ja deshalb nicht immer nur Harmonie verbreiten.

Darum geht es auch nicht. Aber wenn irgendwo Spannungen sind, sollte man die klären. Damit man zumindest mit den Menschen, die einem nahe stehen, im Reinen ist. Das hat sich bei mir in den letzten Jahren erst so herauskristallisiert. Ich bin jetzt 48 Jahre alt, ich habe zwei Drittel hinter mir. Auch deshalb schaue ich eher darauf, was mir wirklich wichtig ist.

Der Job des Rechtsmediziners ist nicht unbedingt ein öffentlicher. Sie haben ihn dazu gemacht: Sie schreiben Bücher und treten im Fernsehen auf. Warum dieses Engagement?

Weil die Rechtsmedizin in der universitären Landschaft nach wie vor ein Schmuddelimage hat. Wir sind ein Nischenfach und für die medizinischen Fakultäten wirtschaftlich nicht attraktiv. Es gibt ein krudes Bild von uns Rechtsmedizinern, dass wir bei der Arbeit Brötchen futtern, Musik hören und überhaupt alle einen Knall haben. Ich will vermitteln, dass wir ganz normale Naturwissenschaftler sind. An den Universitäten in einigen anderen Bundesländern wird die Rechtsmedizin geschlossen. Das darf einfach nicht passieren. Ohne eine funktionierende Rechtsmedizin kann ein Rechtsstaat nicht funktionieren. Deshalb ist es wichtig, die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren, was wir hier machen.

Aber so ein Fernsehauftritt macht Ihnen auch Spaß.

Klar. Wenn man wie mit dem Buch zu Kindesmisshandlungen auch Reibereien provoziert, macht es mir noch mehr Spaß.

Sind Sie eitel?

Nein, glaube ich nicht. Meine Frau sagt manchmal: Wie konntest du so ein Bild von dir abdrucken lassen? Aber mir ist das total egal. Eitel bin ich, wenn, dann in dem Sinne, dass wahrgenommen wird, was ich sage. Dass das ankommt. Mein Aussehen ist da zweitrangig.

Wenn Sie es sich aussuchen könnten: Wie würden Sie sterben wollen?

Mit Mitte 80 nach einem Tag voller Sport neben meiner Frau im Bett einschlafen. Ohne körperliche Gebrechen.

Würden Sie sich obduzieren lassen?

Ich hätte nichts dagegen, wenn der Staatsanwalt das anordnet. Aber ich hoffe, nicht unter Umständen zu versterben, dass eine Obduktion notwendig ist.