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Archiv-Artikel

Burn-out in den Krabbelgruppen

KINDERGESUNDHEIT Den meisten Kindern geht es gut. Doch ein Fünftel der Sprösslinge leidet unter Dauerstress durch das soziale Umfeld, Schlafdefizit und Bewegungsmangel

Links

■ Infos zu Elterntrainings:www.familienforum-havelhoehe.de und bei www.gesundheit-aktiv.de

■ Anthroposophische Heilkunst: www.gesundheit-aktiv.de

 ■ Kongressdokumentation: www.kindergesundheit-heute.de und www.damid.de (vm)

VON VERENA MÖRATH

Im Café: „Meine Tochter ist schon wieder krank! Eigentlich ist sie seit Monaten angeschlagen!“, jammert eine Mutter. „Echt? Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr beim Kinderarzt. Mein Sohn ist total robust“, freut sich eine andere. Macht die eine irgendetwas falsch, hat die andere nur Glück? Leider gibt es darauf keine eindeutige Antwort. Die aktuelle „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS) des Robert Koch Instituts (RKI) belegt, dass es den allermeisten Kindern und Jugendlichen in Deutschland gesundheitlich gut geht. 96 Prozent der Eltern gaben darin an, dass ihre Kinder gesund sind. Einerseits.

Andererseits stellen Kinder- und Jugendärzte fest: Immer mehr Heranwachsende leiden an chronischen Krankheiten wie Diabetes, Neurodermitis und Asthma bronchiale oder erkranken psychisch oder psychosomatisch. Hier Beispiele: Bei etwa einem Fünftel der 11- bis 17-Jährigen in Deutschland liegt der Verdacht auf eine Essstörung vor. Rund ein Drittel der 12- bis 18-Jährigen sind verhaltensauffällig, 13 Prozent psychiatrisch behandlungsbedürftig. Jedes vierte bis fünfte Baby hat Schrei-, Schlaf- und Futterstörungen.

„Die KiGGS-Studie hat nicht Unrecht. Die meisten Kinder wachsen gesund auf, aber rund einem Fünftel geht es schlechter als früher. Eine große Anzahl von Kindern hat keinen guten Start ins Leben. Vor allem sind diejenigen, die in einem sozial schwachen Umfeld aufwachsen, anfälliger für psychische Probleme und chronische Krankheiten“, sagt Christoph Meinecke, anthroposophischer Kinder- und Jugendarzt in Berlin. Er erlebe insgesamt eine Zunahme von Stresssymptomen, Lernschwierigkeiten und -störungen. „30 Prozent aller Schüler sind davon betroffen, in den höheren Jahrgangsstufen fast die Hälfte.“

„Seit den 1960er Jahren haben sich Allergien und Autoimmunerkrankungen verfünffacht, chronische Darmerkrankungen versechsfacht“, erklärt der Münchner Kinder- und Jugendarzt sowie Leiter der Akademie für Anthroposophische Medizin der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland (GAÄD) Georg Soldner. Alarmierend für ihn auch: Die Gabe von Ritalin bei Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) sei heute 42-mal so hoch wie in den 1990er Jahren. Er bedauert auch, dass zu schnell „scharf geschossen“ wird: „Über 40 Prozent der Antibiotika im Kindesalter werden bei Mittelohrentzündungen eingesetzt – in den meisten Fällen unnötigerweise. Unsere Antibiotikaresistenzen sind hausgemacht. Um solche Medikamente wirksam zu erhalten, sollten sie nur angewendet werden, wenn es unumgänglich ist.“

Wissenschaftlich belegte „Krankmacher“ sind aus Sicht beider Experten etwa Schlafdefizit und Bewegungsmangel, schlechte oder unausgewogene Ernährung und übertriebene Hygiene. Leistungsdruck, Überforderung genauso wie Überstimulation und Reizüberflutung, Überfürsorge oder Vernachlässigung, Bindungs- und Orientierungsmangel. All dieses befördert Verhaltensauffälligkeiten und psychische Probleme. Was also ist zu tun? Der Dachverband Anthroposophische Medizin (DAMiD) hat gemeinsam mit der GAÄD im September 2014 erstmalig einen bundesweiten Kongress zum Thema „Kindergesundheit heute“ veranstaltet. Schul- und Komplementärmediziner, Fachkräfte aus Pädagogik und Psychologie, der Jugendhilfe und der Elternarbeit haben hier „miteinander anstatt übereinander geredet“, schildert Georg Soldner als Mitinitiator des interprofessionellen Dialogs. „Mich hat es sehr gefreut, dass Schulmediziner vertreten waren. Ganzheitliche Medizin trägt immer noch das Stigma ‚Sekte‘. Der Kongress hat einen angstfreien Raum geschaffen, um sich auszutauschen, gemeinsame Ziele zu formulieren und eine gemeinsame Sprache zu finden, anstatt nur auf Unterschiede zu pochen“, bilanziert Meinecke.

Nichts ist so wichtig für die Kindergesundheit wie die Familie, wie Bindungen und Beziehungen untereinander. Eine mütter- liche Depression oder Paarkrise hat direkten Einfluss auf die Gesundheit von Kindern

Ausdrücklich eingeladen waren auch interessierte Eltern. „Sie sind die wichtigste ‚Berufsgruppe‘, ohne sie über Kindergesundheit zu sprechen, ist nicht sinnvoll“, findet Soldner. „Eltern sind wie Bergführer, stürzen sie ab, dann auch ihr Kind.“ Die elterliche Situation müsse in der Praxis mehr in den Blick genommen werden. „Eine mütterliche Depression oder Paarkrise, vor allem der Stress der Eltern hat direkten Einfluss auf die Gesundheit von Kindern“, so Meinecke.

Das „Familienforum Havelhöhe“, das Meinecke in Berlin leitet, bietet anthroposophisch ausgerichtete Schulungen an. Die Babykurse fokussieren darauf, was es bedeutet, Eltern zu sein. Diese wie auch andere Elterntrainings wollen, ohne zu moralisieren, Eltern sensibilisieren, die Grundbedürfnisse ihrer Kinder in allen Altersstufen richtig zu deuten, damit die Balance zwischen gesunder Fürsorge einerseits und Stärkung der Unabhängigkeit von Kindern gelingt.

„Nichts ist so wichtig für die Kindergesundheit wie die Familie, wie Bindungen und Beziehungen untereinander“, betont Soldner und nutzt eine schöne Metapher für eine gesundheitsfördernde Erziehung: „Wenn Kinder von zu Hause ausziehen, sollten sie tanzen und kochen können.“ Will heißen: Selbstständig und fähig sein, ihre Freiräume – trotz und neben aller gesellschaftlichen Zwänge – zu gestalten.