: Der Quatsch mit dem Ödipuskonflikt
KRANK Günter ist Psychoanalytiker und schwul – noch vor wenigen Jahren hätte er diesen Beruf deshalb nicht ergreifen dürfen. Eine Begegnung zwischen Geheilten
VON MARTIN REICHERT
Mitten in der Woche steppt der Bär im „Prinzknecht“, einer Homo-Bar in Berlin-Schöneberg. Brechend voll ist der Laden, und das schon am frühen Abend. Heute ist „Two For One“, die Getränke gibt es zum halben Preis, und überall stehen lachende Männer, viele mit Bärten, manche mit grauem Haar, so wie Günter: „Ich war bestimmt schon 20 Jahre nicht mehr in einer Schwulenbar“ sagt er. Günter ist Ende 50, trägt eine randlose Brille, die die warmen braunen Augen nicht verbirgt. Er ist Psychoanalytiker. Jungianer. Ein Bier hat er in der Hand, gewundert hat er sich über den absurd niedrigen Preis – so viel kann sich doch in diesen letzten 20 Jahren nicht verändert haben?
Doch. Zum Beispiel darf man im „Prinzknecht“ nicht mehr rauchen, weshalb wir vor der Tür in einem Zelt sitzen. Rauchverbote in der Gastronomie gelten seit sieben Jahren, Zeiten ändern sich. So wie vor ungefähr zwanzig Jahren, als die größte Wunderheilung der Menschheitsgeschichte stattfand – im Jahr 1992 hatte die WHO Homosexualität aus dem Katalog der Krankheiten gestrichen. Und nur ein Jahr zuvor, im Jahr 1991, hatte sich die American Psychoanalytic Association nach heftigen Kontroversen zu einer Entschuldigung durchgerungen: „Die APA lehnt jede öffentliche oder private Diskriminierung gleichgeschlechtlich orientierter Frauen und Männer ab und bedauert sie. Es ist die Position der APA, dass die mit uns verbundenen Ausbildungsinstitute ihre Kandidaten aufgrund ihres Interesses für die Psychoanalyse aussuchen, wegen ihres Talents, ihrer Vorbildung, ihrer Integrität, ihrer Bereitschaft zu Selbstanalyse und Ausbildung – und nicht aufgrund ihrer sexuellen Orientierung“. Erst 2002 folgte die Internationale Psychoanalytische Vereinigung (IPV), was dann den Fortschritt auch in Deutschland Einzug halten ließ.
Nur zwei Jahrzehnte früher also, und man hätte sich diese fröhliche Gesellschaft im „Prinzknecht“ offiziell als Ansammlung von Neurotikern vorstellen müssen. Verwirrte mit einem prä-ödipalen Knacks, Gescheiterte mit narzisstischer Grundstörung, die verzweifelt billigen Alkohol in sich hineinschütten, um sich im späteren Verlauf des Abends ungezügelt ihren fehlgeleiteten Trieben hinzugeben. Im Keller des „Prinzknecht“ gibt es einen Darkroom.
Günter hat diese Pathologisierung am eigenen Leib erfahren, in mehrfacher Hinsicht. Als er mit 14 Jahren begriff, dass er Männer begehrte, wartete er zunächst darauf, „dass das wieder weggeht, ich hatte das Gefühl, dass das nicht richtig ist“, Ein Schicksal, das er mit den meisten jungen Schwulen teilte – bis heute ist es häufig so. Nach seinem Coming-out im Jahr 1975 engagierte er sich in der Schwulenbewegung. Es ging aufwärts, es waren die Siebziger, eine Zeit der Befreiung.
Anfang der Achtziger begann er sein Medizinstudium mit dem Ziel, Psychiater zu werden. Doch als er dann eine Ausbildung zum Analytiker machen wollte, geriet er an die Grenzen der Freiheit: Er wurde abgelehnt, aufgrund seiner Homosexualität. „Das war ein ziemlicher Schlag – und klar, auch eine narzisstische Kränkung.“ Laut zentralem Unterrichtsausschuss war er schlicht jemand, der am Ödipuskonflikt gescheitert war und daher nicht als Analytiker arbeiten konnte.
„Das mit dem Ödipuskonflikt ist totaler Quatsch – und heute gilt Homosexualität auch kaum noch als Ausschlusskriterium.“ Wenn Günter den Satz „Schwule und Lesben sind auch nicht kränker als alle anderen“ sagt, wirkt er leicht ermüdet, so, als ob er zum tausendsten Mal eine Binsenweisheit von sich gibt. Und doch weiß er, dass man es wohl immer wieder wird sagen müssen: „Nach dem Jahr 2002 verschwanden dann plötzlich die entsprechenden Artikel aus den Lehrbüchern – aber die Auffassung, dass Homosexuelle krank sind, gibt es natürlich noch immer.“
Nicht zuletzt bei den Homosexuellen – wer über einen so langen Zeitraum pathologisiert wird, glaubt am Ende selbst daran. Ist das wirklich normal, was wir hier tun? Zum Beispiel anonymen Sex in einem Darkroom zu haben, ist das gesund? „Eine solche Form des anonymen Sex ist ein Aspekt menschlicher Sexualität; nicht alle Schwulen machen das“, sagt er. Heterosexuelle würden ja sexuell auch alles Mögliche tun, aber eben im Untergrund, das sei halt eine kulturelle Angelegenheit. Bevor man pathologisiert, „müsste man dann schon genauer hinschauen: Wird diese Form der Sexualität zur Sucht? Geht es um die Bekämpfung einer Depression? Anonymer Sex kann aber auch einfach nur schön sein.“ Er sei früher oft in Schwulensaunas gegangen, fand das damals aufregend. „Es ist aber auch banal.“
Aber haben Homosexuelle doch vielleicht einen an der Waffel, also zumindest eine narzisstische Störung? „Wenn es einen narzisstischen Konflikt gibt, wird er durch die Erfahrungen, die man als Homosexueller macht, verstärkt“ – ein Misfit zu sein sei schwer; wer nicht selbstsicher ist, bekäme ein Problem. „Der eigentliche Konflikt liegt aber meistens ganz woanders.“ Und was ist mit dem überproportionalem Konsum von Alkohol und Drogen, der erhöhten Suizidrate bei schwulen Jugendlichen? „Ja, man hat es schwerer als Homosexueller. Man ist mehr herausgefordert. Es gibt keine klaren Lebensmuster, die man übernehmen kann. Es ist auch schwer, keine Kinder zu haben. Aber da tut sich ja was in der Gesetzgebung.“
Während im Raucherzelt geraucht, gelacht, getrunken wird, wirkt Günter ruhig. Nicht erschütterbar – und doch ist es ihm, der sonst immer zuhört, nicht ganz recht, derart ausgefragt zu werden. Vielleicht wäre er an diesem Abend mitten in der Woche lieber bei seinem Lebensgefährten, zu Hause in der gemeinsamen Altbauwohnung. Nicht weit davon liegt die Praxis – jetzt, mit 60, läuft alles gut und rund. „Nachdem ich mich selbst einer Analyse unterzogen hatte, fing ich Ende der neunziger Jahre mit meiner Ausbildung als Analytiker an.“ Gezielt übrigens habe er sich den Jungianern angeschlossen, auch „weil diese hinsichtlich der Homosexualität weniger rigide waren“.
Dass er namentlich nicht genannt werden will, obwohl er offen schwul lebt, erklärt er ganz pragmatisch. Die meisten Analytiker möchten nicht, dass ihre Patienten zu viel über sie wissen, weil sonst bestimmte Fantasien nicht mehr funktionieren. „Wenn ich einen schwulen Patienten habe, dem es an Vaterliebe mangelt – was häufig vorkommt –, kann es hilfreich sein, wenn er weiß, dass ich schwul bin.“ Er habe aber auch Fälle gehabt, bei denen internalisierte Homophobie zu einem Problem wurde, „Ich habe schwule Fantasien, aber Sie können mir nicht helfen, weil Sie selbst schwul sind“, sagten Patienten zu ihm.
Welche Geschichten wohl die Männer in dieser Bar erzählen könnten? Wie viele mussten schon einen Therapeuten aufsuchen? Welchem Druck haben sie standhalten müssen und wie haben sie das geschafft? „Die Entwicklung von Schwulen erfordert mehr Stabilität“, erklärt Günter. Irgendwie wirkt dieser Satz tröstlich. Man sitzt hier unter Überlebenden, die aus vollem Herzen lachen können, „gay“. Einige werden nachher noch weiterziehen in einen der benachbarten Fetisch-Clubs, um dort weiterzufeiern. Womöglich eine Orgie. Andere werden nach Hause gehen, weil sie morgen zur Arbeit müssen oder weil der Partner wartet.
So wie Günter. Arbeiten will er nach der langen Ausbildung bis zum Ende seines Lebens. Zum Abschied erinnert er sich noch mal an früher, an die Zeit, als er selbst oft ausgegangen ist. „Die Siebziger, Disco – das waren doch schöne Zeiten. Ich habe alles ausprobiert. Und die Schwulenbewegung, die hat mir wirklich geholfen.“ Aber was ist mit den Beschädigungen, den Ängsten? Was ist aus der Hoffnung des Fünfzehnjährigen geworden, vom Anderssein erlöst zu werden? „Davon ist eigentlich nichts mehr da“, sagt Günter, „fast.“