: Schärfe und Ironie
MEDIENFIGUR Sein Leben ist auf den Kopf gestellt: eine Solidaritätslesung aus dem Blog von Ai Weiwei in Berlin und die Kurve der öffentlichen Erregung
Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Auf kaum einen Menschen scheint der berühmte Satz aus Ludwig Wittgensteins „Tractatus Philosophicus“ derzeit besser zu passen als auf den chinesischen Künstler Ai Weiwei. Die 81 Tage Haft in diesem Sommer dürften ihm die eigene Existenz zumindest zeitweilig so fremd gemacht haben, dass es auch schwierig geworden ist, sie in Worte zu fassen. Und dann ist da noch das Redeverbot, das ihm die Machthaber im Reich der Mitte nach seiner Entlassung verordnet haben.
Das heißt nun nicht, dass gar keine Kommunikation in eigener Sache mehr möglich wäre. Für die Süddeutsche Zeitung verfiel Ai kürzlich auf eine ungewöhnliche Idee. Auf deren Frage: „Wie ist Ihre Stimmung?“ antwortete er mit einem Foto, auf dem man ihn beim Handstand an einer Mauer seines Pekinger Ateliers sah, von zwei Freunden assistiert. Die Bilderserie sagte mehr über Ais auf den Kopf gestelltes Leben als tausend Worte: So kann man das Schweigegebot natürlich auch umgehen.
Das Verspielte, Fantasievolle, Burleske, mit der der bedrohte Künstler immer wieder auf seine Lage aufmerksam macht, lässt das Drama um ihn oft wie ein lustiges Räuber-und-Gendarm-Spiel aussehen. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass es immer noch um Leben und Tod geht. Schon weil seine 78-jährige, schwer kranke Mutter im Spiel ist. Von der Ai sagt, dass seine Haft sie an den Rand des Todes gebracht habe.
Der Wechsel zwischen Anklage und Performance, die Mischung aus Schärfe und Ironie, die er in dem täglichen Tauziehen mit den Staatsorganen seit seiner Freilassung dennoch immer wieder demonstriert, erklärt aber vielleicht auch, warum die Solidaritätsaktionen, mit denen sein Fall hierzulande begleitet wird, immer etwas bemüht aussehen.
Das Ritual einer Politisierung
Gegenüber Ais jüngsten Kapriolen hatte die Solidaritätslesung aus seinem Blog, die der Galiani-Verlag vergangenen Freitagabend im Berliner Martin-Gropius-Bau veranstaltete, etwas von einem steifen Ritual. Bei dem die Zuhörer zwar erneut Zeuge einer beeindruckenden Politisierung werden konnten. Eva Menasse, Elke Schmitter und Alain Claude Sulzer, die Autorinnen, die diesmal die Rolle der Lesenden aus Ais Blog „Macht Euch keine Illusionen über mich“ übernommen hatten, vermochten es, seinen Lebensweg vor dem inneren Auge erstehen zu lassen: von dem ahnungslosen Jungen, der mit seiner Familie zu Zeiten der Kulturrevolution in einem Erdloch in der chinesischen Provinz hausen musste, zum entschiedenen Herausforderer der größten Partei der Welt.
Doch was hilft das dem fröhlichen Schmerzensmann? Am Ende hoffte man, dass sich seine Unterstützer in der ganzen Welt nicht so unauffällig zerstreuten wie die Besucher nach einer Stunde ausspracheloser Lesung aus dem Kinosaal im Museumskeller in eine kalte Dezembernacht. Hilflos und ernüchtert schlichen alle von dannen.
Die Lesung war ein aufschlussreiches Barometer für die Konjunkturen des öffentlichen Interesses in Sachen des derzeit berühmtesten Dissidenten der Welt. Ende Juni, als die weltweite Empörung über Ais Verhaftung auf dem Höhepunkt und der chinesische Staatspräsident in Berlin eingetroffen war, platzte das das Literaturhaus in der Fasanenstraße bei der Solidaritätslesung von Herta Müller, Norbert Bisky und Uwe Kolbe. Doch trotz der jüngsten Medienoffensive in Sachen Ai Weiwei, vom Spiegel bis zu einer im Netz kursierenden Videobotschaft, verloren sich kaum 30 Zuhörer in dem Haus, in dem die Ausstellung mit Ais Fotos aus seiner New Yorker Zeit von 1983 bis 1993 zu sehen ist. Die ganz große Erregung ist abgeflaut. Als Medienfigur ist Ai gesetzt. Alle warten auf ihren nächsten Auftritt.
Zumindest in seiner Heimat gilt ihm mehr als die routinierte Solidarität der Voyeure. Je stärker sie wird, desto stärker wird Ai freilich auf eine undankbare Rolle festgelegt. „Ich bin kein Dissident. Sondern einfach nur jemand, der wegen der Maßnahmen der Regierung ins Scheinwerferlicht geraten ist“, beharrte er kürzlich gegenüber dem britischen Guardian. Das ist natürlich eine strategische Untertreibung. Es klang aber auch wie die versteckte Mahnung, von dem Künstler Ai Weiwei nicht zu schweigen. INGO AREND