: Im Land der Pauker und Büffler
SCHOCK Zehn Jahre nach Erscheinen der ersten Pisa-Studie hat sich Deutschlands Bildungslandschaft verändert. Doch die Revolution steht noch aus: im Unterricht
VON ANNA LEHMANN
Der Dezember 2001 begann mit einem Knall. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) stellte in Berlin die Ergebnisse des ersten internationalen Vergleichs von Schülerleistungen vor. Die Pisa-Studie legte bloß: Die geistigen Erben der Dichter und Denker zeigen unterdurchschnittliche Leseleistungen. Und wie viel jemand in der Schule lernt, ist in keinem anderen Land so stark vom Elternhaus abhängig.
Nach kurzem Pisa-Schock warfen die Bildungspolitiker von Land und Bund die Reformmotoren an. Um es vorweg zu nehmen: In den Schulen hat sich viel verändert in den vergangenen zehn Jahren, doch die Revolution steht noch aus: die des Lernens.
Zehn Jahre nach Pisa ist Deutschlands Bildungslandschaft nicht mehr dieselbe. Kitas sind in, eine Ganztagsschule gibt es in jedem Kaff, Hauptschulen sind politisch nicht mehr opportun, das Gymnasium ist schneller und straffer geworden.
Und die Schulen werden nun regelmäßig überprüft, ob die Schüler dort auch genügend lernen. Die Kultusminister haben Bildungsstandards entwickeln lassen und jedes Jahr müssen Dritt- und Achtklässler in bundesweiten Vergleichsarbeiten nachweisen, dass sie diesen genügen. In der vierten Pisa-Studie 2009 haben die Deutschen Anschluss ans Mittelfeld gefunden. Im Unternehmenssprech kann man sagen, die Output-Orientierung des Bildungswesens ist größer geworden. Doch wie sieht es mit dem Input aus?
Als die OECD-Forscher sich zu Beginn des Jahrtausends daran machten, die Leistungen 15-jähriger Schüler zu messen, haben Forscher der Humboldt-Universität „Schule aus der Sicht von Schülern“ untersucht. Auf die Frage „Was ist das Schlimmste an der Schule“ erhielten sie regelmäßig die Antwort: „Die Lehrer“. Nun gut, Lehrerskepsis gehört zum guten Ton unter Heranwachsenden. Nachdenklich macht jedoch, dass die Hälfte der Siebtklässler und zwei von drei Neuntklässlern nicht glaubten, dass „unsere Lehrerinnen und Lehrer interessiert, dass wir wirklich etwas lernen“.
In vielen Klassenräumen herrscht auch heute noch eine Kultur des Gleichschritts. Die Schüler konsumieren Wissen bis zur Klassenarbeit, und dann wird das Zentralmaß angelegt. Die erreichten Zensuren drücken nicht die Lernfortschritte der Einzelnen aus, sondern messen sie an der Leistung der anderen. Erfolgreiche Arbeit hat eine Lehrerin geleistet, wenn die „Normalverteilung“ stimmt: Wenige Einser, ein starkes Mittelfeld und einige Fünfer und Sechser. Und wehe, wer dagegen verstößt. Die bayerische Lehrerin Sabine Czerny wurde 2008 an eine andere Schule versetzt, weil sie den „Schulfrieden“ störte. Ihre Schüler waren zu gut.
Mit individueller Förderung lässt sich die Notengebung nur schwer verbinden. Wohl aber mit dem quicklebendigen Auslese-Gedanken des deutschen Schulwesens: Am besten lernt es sich doch, wenn die guten Schüler am Gymnasium unter sich sind und die schwächeren Schüler von anderen Schulformen aufgefangen werden. Dass es Kinder aus ärmeren Schichten nach der Grundschule viel schwerer haben, auf ein Gymnasium zu wechseln, als Mittelschichtskinder, nimmt man dabei in Kauf.
Die Gymnasien – die aus der möglichst frühen Trennung der Kinder nach Zensuren ihre Daseinsberechtigung ableiten – sind zu Beginn des zweiten Pisa-Jahrzehnts unantastbar.
Und sonst? In keinem anderen Industrieland war der Zusammenhang zwischen Elternhaus und Leseleistung im Jahre 2001 so groß wie in Deutschland. Bis zu drei Vierteln der Hauptschüler fehlten im Alter von 15 Jahren grundlegende Lesefähigkeiten, die es ihnen ermöglichen sollen, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Auch heute noch bezeichnen die Bildungsforscher jeden fünften bis sechsten besorgt als „ Risikoschüler“. Und die Autoren der deutschen Pisa-Studie stellen in ihrer Bilanz fest, dass es bis heute an erprobten Förderkonzepten mangele, um die Gruppe der schwachen Leserinnen und Leser zu unterstützen. Im Klartext: im elften Jahr nach dem Pisa-Schock ist die zentrale Gerechtigkeitslücke des deutschen Bildungssystems nicht mal ansatzweise geschlossen.