Nordhorn stürzt Spitzenreiter

Tabellenführer Kiel verliert mit 29 : 34 gegen das Überraschungsteam der Handball-Bundesliga. Allem Erfolg zum Trotz gibt sich die HSG aus der nordwestdeutschen Provinz weiter bescheiden

Vom ganz großen Wurf will in Nordhorn niemand etwas wissen – zumindest offiziell nicht

AUS NORDHORN ULRICH BERNSTORF

Schon seit Wochen ist das Spiel der SG Nordhorn gegen den THW Kiel ausverkauft – und an diesem Samstagnachmittag einziges Thema in der 53.000-Einwohner-Stadt an der holländischen Grenze. Das Handballteam ist der Stolz der ganzen Region, und die Konstellation könnte spannender nicht sein – liegt man doch nur einen Punkt hinter dem Meister auf Rang drei.

Mehr als sechs Jahre warten die Nordhorner nun schon auf einen Erfolg gegen die „Zebras“, die letzten sieben Spiele gingen indes allesamt verloren. Diesmal aber wird man sich auf Augenhöhe begegnen: Schon zweimal gelangen in dieser Spielzeit Aufsehen erregende Siege gegen den Konkurrenten Flensburg. Und in eigener Halle sind die Nordhorner als einziges Team der Liga noch ungeschlagen.

Mit 4.500 Zuschauern ist das Euregium an diesem Samstag überfüllt. Die Stimmung ist aufgeheizt, die 100 mitgereisten Anhänger des Meisters stehen auf verlorenem Posten. THW-Trainer Noka Serdarušić muss weiterhin auf seine Stammkraft Filip Jicha verzichten. Bei den Gastgebern fällt Rückraumspieler Piotr Przybecki aus – Mandelentzündung. Stattdessen steht Erlend Mamelund in der Startformation – und der Norweger stellt von Beginn an seinen Wert für das Team unter Beweis.

Nach 18 Sekunden trifft Kim Andersson zur Kieler Führung. Noch ahnt keiner, dass es die einzige bleiben sollte für den Favoriten. Schnell übernehmen die Nordhorner das Kommando, angetrieben vom Weltmeister in ihren Reihen, Holger Glandorf. Immer wieder finden Bjarte Myrhol und Jan Filip Lücken in der Kieler Deckung, die längst nicht so souverän agiert wie gewohnt. Auf der anderen Seite verantwortet Spielgestalter Nikola Karabatić die Offensive des Meisters. Der französische Ausnahme-Spieler zeigt durchaus seine Klasse, doch diesmal findet er in Nordhorns Keeper Peter Gentzel seinen Meister. So wächst der Vorsprung der Gastgeber bis zur Pause auf 18 : 14. In der Halle herrscht Euphorie: Nach der besten Halbzeit dieser Saison sieht es danach aus, als könnte der Sieg kaum noch in Gefahr geraten könnte.

Und so geht es im zweiten Durchgang weiter – zunächst. Zwischenzeitlich führt Nordhorn gar mit sechs Toren. Doch zehn Minuten vor dem Ende zeigen sich erste Ermüdungserscheinungen. Der THW kommt auf zwei Zähler heran. Als Pajovič die Chance zum Anschlusstreffer vergibt und Glandorf im Gegenzug für Nordhorn trifft, entscheidet sich das Spiel.

In der Auszeit beschwört Noka Serdarušić noch einmal seine Mannschaft. Doch Gentzel entschärft auch die folgenden Kieler Angriffe, währen Jan Filip auf der Gegenseite alles klarmacht. Die letzten zwei Minuten sind ein Schaulaufen. Sagenhafte 23 Paraden ihres überragenden Keepers bescheren der HSG Nordhorn am Ende das lang ersehnte Erfolgserlebnis gegen den Sieger in der Champions Leage.

Der Tabellenführer ist entthront, die HSG vorbeigezogen und Punktgleich mit dem neuen Spitzenreiter Flensburg auf Rang zwei – wäre da nicht Flensburgs besseres Torverhältnis. Aus dem norddeutschen Spitzentrio aus Kiel, Flensburg und dem HSV Hamburg ist nun ein Quartett geworden: Nordhorn hat sich von einem Favoritenschreck zum ernsthaften Meisterschaftskandidaten gemausert.

Was die Nordhorner wohl selbst am meisten überrascht. Zwar qualifizierte man sich als Fünfter für den Europapokal, doch nach den Abgängen der Führungsspieler Vranjes und Lund drohten schwere Zeiten. Trainer Ola Lindgren, mittlerweile im zehnten Jahr in Nordhorn, gelingt es aber immer wieder, mit den vorhandenen Kräften ein schlagkräftiges Team zu formen, das seine skandinavische Handball-Philosophie umsetzt. Seine Mannschaft glänzt durch Geschlossenheit, Willensstärke und hohes technisches Niveau. „Das ist nur eine Momentaufnahme“, sagt er, „es kommen jetzt erst mal noch andere schwere Spiele, zum Beispiel gegen Hamburg. Neue Ziele werden wir uns jetzt noch nicht setzen.“ Auch Manager Bernd Rigterink tritt auf die Euphoriebremse. „Wir müssen jetzt mit beiden Beinen auf der Erden bleiben“, sagt der Logistikunternehmer und Vater des Nordhorner Handball-Erfolgs.

Seit neun Jahren ist man in der Bundesliga, da wachsen die Ansprüche, auch wenn man regelmäßig Führungsspieler an die großen Clubs abgeben muss. Auf über zweieinhalb Millionen Euro wird der Etat der HSG geschätzt. Jener des Titelverteidigers aus Kiel dürfte fast dreimal so hoch sein. Dennoch ist es Rigterink gelungen, Weltmeister Holger Glandorf zu halten – trotz zahlreicher lukrativer, auch internationaler Angebote. „Wir sind ein höchst attraktiver Erstligist“, sagt der Manager. „Bei uns stimmt vieles, das Umfeld und auch die sportliche Perspektive.“

Das läst sich Rigterink zufolge an der Entwicklung Glandorfs ablesen, der Mannschaft und Publikum regelrecht mitreißt: Der Weltmeister genießt in Nordhorn den Status eines Volkshelden. und kommt „bestens damit klar“, wie er abends in der VIP-Lounge wissen lässt. „Ich fühle mich hier pudelwohl, privat lässt man mich in Ruhe und mit der Mannschaft läuft es super, so kann’s weitergehen.“

Ob die HSG Nordhorn schon für den ganz großen Wurf bereit ist, wird sich zeigen. Hier will noch niemand etwas davon wissen, zumindest offiziell nicht. Doch zurzeit, so viel steht fest, spielt das Team aus der nordwestdeutschen Provinz den besten Handball in der Bundesliga.