: Der schlechte Mundgeruch alter Rollenbilder
DOKUMENTARFILM Wie schnell an die Wand geworfene Dias: „Tristia. Eine Schwarzmeer-Odyssee“ von Stanislaw Mucha
VON MATTHIAS DELL
Das Schwarze Meer liegt so mitten, mythisch und geopolitisch hübsch zwischen Europa und Asien, dass man nur auf die Idee kommen kann, es zu umrunden. Stanislaw Mucha hat daraus die Struktur für seinen neuen Film abgeleitet: „Tristia. Eine Schwarzmeer-Odyssee“. Mucha muss als der geeignete Autor einer solchen Raumerforschung erscheinen, seit er in „Die Mitte“ 2004 die zahllosen Versuche dokumentiert hat, ein europäisches Zentrum zu bestimmen. Der Film war der richtige zur richtigen Zeit, nämlich in das erwachende Selbstbewusstsein des EU-Europas hinein.
Im Sinne dieses Momentums ist „Tristia“ weniger glücklich: Für die Winterspiele 2014 in Sotschi kommt Muchas Stippvisite in dem Kurort zu spät, um noch für die Verdrängungseffekte des Riesenbauprojekts interessieren zu können; für den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland, in dem die Krim keine unwichtige Rolle spielte, ist der durchreisende Filmemacher wiederum zu früh.
Man täte dem Film allerdings unrecht, wenn man seinen Zeitbegriff als schnappatmende Aktualität denkt. Der Horizont ist diesbezüglich weit, wie der Titel schon andeutet, der von einem Werk des ans Schwarze Meer verbannten Dichters Ovid (43 v. Chr. bis 17 n. Chr.) entliehen ist. Das Goldene Vlies, Jason, Medea sind Referenzen, die in den kurzen Gesprächen, die „Tristia“ auf seiner Fahrt führt, immer wieder auftauchen. Und die durchaus geschlechterpolitisch diskutiert werden, wie die Klage einer Frau im georgischen Batumi zeigt: Die hätte lieber ein ordentliches Heldendenkmal statt der Medea-Statue für eine „Prostituierte“. Auf türkischem Gebiet referieren zwei Männer dagegen nüchtern Amazonen-Geschichten.
So weht einen in „Tristia“ nicht selten der schlechte Mundgeruch alter Rollenbilder an. Wenn Muchas Reise etwas zeigt, dann wäre das, wie wenig sich verändert hat seit dem fernen Damals. Homosexualität gäbe es nicht, sagt eine Frau an einer Station an der russischen Küste („Zwar ist meine Nachbarin eine Lesbe, aber das ist nicht wahr“). Und ein Mann leitet von Lenins angeblicher Arbeitsscheu zum Jüdischen in Karl Marx über („Ich hab nichts gegen Juden, aber der war einer“).
Das Langweilige an diesen Äußerungen ist noch nicht einmal, welche Haltungen dahinterstehen, sondern wie lieblos und schnell Mucha seine Dias an die Wand wirft: Wenn das Statement einer Autochthonen mal aus drei Sätzen besteht, muss es in diesem Film schon als lang gelten. Man darf sich schon fragen, wieso einer eine Reise tut, wenn er dann nichts erzählen will.
Die Uninspiriertheit von „Tristia“ kommt am besten in den Einstellungen zum Vorschein, in denen die Kamera Menschen so frontal porträtiert, als würden die Fotografen August Sander und Robert Frank die Schwarzmeerbevölkerung erstmals katalogisieren wollen. Diese scheinbar sachlichen Bilder sagen heute, da die Aufnahme eines Fotos kein langwieriges Geschäft mehr ist, sondern permanente Praxis mit dem eigenen Handy, nämlich kaum noch etwas aus. Man schaut einen Film, und der schaut zurück, weil er sonst nicht weiß, was er loswerden wollte.
■ „Tristia. Eine Schwarzmeer-Odyssee“. Regie: Stanislaw Mucha. Dokumentarfilm. Deutschland 2015, 104 Min.