Der Kampf um die Ordnung

BLOCKUPY Tausende protestieren gegen die EU-Krisenpolitik und die Haltung der Bundesregierung im Griechenlandkonflikt

Es sind die schwersten kapitalismuskritischen Ausschreitungen seit Jahren

AUS FRANKFURT AM MAIN MARTIN KAUL

Es ist 10.23 Uhr, als am Alfred-Brehm-Platz eine kleine Gruppe Vermummter ein Brecheisen hervorholt. Kein einziger Polizist ist zu sehen. „RWE“ steht in großen Buchstaben auf dem Gerät, mit dem hier gewöhnlich Elektroautos aufgeladen werden können. Jetzt stemmt ein junger Mann die Anlage auf, dann fügt jemand Brandbeschleuniger hinzu, zündet. Es fängt langsam an zu qualmen. Gleichzeitig schieben andere Vermummte Mülltonnen auf die Straße. Wieder eine Barrikade mehr an diesem Mittwoch in Frankfurt. Die Vermummten laufen fort.

Dies ist ein Kampf um die Ordnung. Eigentlich soll es heute vor allem um die Wirtschaftsordnung Europas gehen und um die Finanzpolitik, die etwa von der Europäischen Zentralbank (EZB) mit betrieben wird. Als Teil der sogenannten Troika überwacht die EZB unter anderem die Sparauflagen, die Staaten wie Griechenland von Kreditgebern wie Deutschland auferlegt werden. Das kapitalismuskritische Blockupy-Bündnis hat aufgerufen, dagegen anzugehen. Es plädiert für einen Schuldenschnitt in Griechenland und für europaweite Wohlfahrts- und Sozialprogramme. Tausende Menschen sind dem Aufruf gefolgt.

Doch zunächst einmal geht es um die Ordnung auf der Straße. Denn die Situation eskaliert.

Die Vermummten am Alfred-Brehm-Platz sind weitergezogen. Nun treten zwei Männer ins Bild. Der eine löscht mit einer Mineralwasserflasche das lodernde Feuer. Der andere, ein Mann in feinem Sakko, schiebt die Mülltonnen zurück auf den Bürgersteig. Selbsthilfe, die Polizei ist noch beschäftigt.

Nur wenige hundert Meter weiter steht ein ausgebrannter Opel auf der Straße, daneben ein verkohlter Mercedes. Sparkassenscheiben sind demoliert, Bushäuschen zertrümmert. Rund um die EZB lodern kleine Feuer auf den Straßen. Es sind die vielleicht schwersten kapitalismuskritischen Ausschreitungen in Deutschland seit den Krawallen von Rostock anlässlich des G-7-Gipfels im Jahr 2007. Der 1. Mai in Berlin? Nichts dagegen.

Doch auch die Gegenseite hat massiv aufgefahren. Mindestens 8.000 Polizisten sind im Einsatz, die Frankfurt zu einer Festung wohl nie da gewesenen Ausmaßes gemacht haben. Allein 28 Wasserwerfer stehen bereit – das ist ein großer Teil dessen, was überhaupt in Deutschland verfügbar ist. Die Europäische Zentralbank ist großflächig abgeriegelt, doppelt gereihte Absperrgitter, stacheliger Nato-Draht, auch zusätzliche Distanzzonen sind mit Kreide ausgewiesen. Wasserwerfer, Pfefferspray, CS-Gas-Kartuschen – im Dauereinsatz. Polizeivertreter, Politiker, selbst die Bundesregierung verurteilt das Ausmaß der Proteste (siehe links).

Auch das Blockupy-Bündnis gibt sich selbstkritisch: „Ich hätte mir den Mittwochvormittag anders gewünscht“, sagte Ulrich Wilken, hessischer Landtagsabgeordneter der Linkspartei und Anmelder der Proteste. Er sei „betrübt und entsetzt darüber, was ich selbst und andere Aktivisten gesehen und erlebt haben“. Andererseits habe er auch großes Verständnis für die Wut der Menschen, die von der „Verelendungspolitik der EZB“ betroffen seien. „Es ist die Wut über eine Politik, in deren Folge die Säuglingssterblichkeit in Griechenland drastisch gestiegen ist.“

Auch andere Sprecher des Bündnisses bedauerten die teils heftigen Ausschreitungen – und mühten sich im Verlauf des Tages, auf eine Mäßigung der Proteste einzuwirken. Am späten Nachmittag kamen schon zur Auftaktkundgebung einer weiteren Demo rund 10.000 Menschen auf den Rathausplatz, bei der unter anderen die Globalisierungskritikerin Naomi Klein und Sahra Wagenknecht (Linkspartei) redeten. Am späteren Umzug beteiligten sich noch mal deutlich mehr Menschen. Die Polizei zählte 17.000, die Veranstalter selbst sprachen von bis zu 30.000.

Am Morgen hatten sich nach Angaben der Veranstalter bereits 6.000 Menschen an den sogenannten Blockaden beteiligt, davon rund 1.000 aus dem europäischen Ausland. Zahlreiche Gruppen aus Spanien, Frankreich und Griechenland waren angereist, besonders viele kamen aus Italien, teils aus Neapel, Palermo und Rom.

Damit hat sich Frankfurt im Verlauf der letzten drei Jahre zu einem zentralen Ort europäischer Krisenproteste entwickelt. Bereits 2012 war das Blockupy-Bündnis erstmals in Frankfurt auf die Straßen gegangen und hatte seitdem besonders viel Energie in die Vernetzung europäischer Gruppen gesteckt. Wie es nach diesem Tag mit den Blockupy-Protesten weitergeht, ist nun offen. Die Demonstranten werten den Tag jedoch auch als Erfolg, weil sie – kurz nach den Wahlen in Griechenland – nicht nur die Frage nach der Ordnung auf der Straße, sondern auch die nach der Legitimität der europäischen Wirtschaftsordnung erneut auf die Titelseiten katapultiert haben.

Immerhin: Auch oben, bei der Eröffnung der neuen EZB-Zentrale, zu der nur eine handverlesene Auswahl von Journalisten Zugang hatte, ging Notenbankchef Mario Draghi auf die massiven Proteste ein.

Die Bilanz des Tages zum Redaktionsschluss laut Polizei: 94 verletzte Polizisten, Dutzende Festnahmen und mehr als 350 durchgeführte Personalienfeststellungen. Das Blockupy-Bündnis zählte auf der Seite der Aktivisten mehr als 130 Verletzte.