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Archiv-Artikel

„Eine dunkle Seele“

KOMPLEX Englische Marmelade aus Bitterorangen erschreckt viele beim ersten Mal. Wie Espresso, sagt der britische Weinkritiker Stuart Pigott. Man muss lernen, damit umzugehen

Stuart Pigott

■ 54, ist Brite, Weinkritiker und gilt als einer der besten Kenner deutschen Weins. Sein neues Buch heißt „Planet Riesling“ und ist im Tre-Torri-Verlag erschienen. Pigott lebt seit über 20 Jahren in Deutschland, seit zwei Jahren pendelt er zwischen Berlin und New York.

INTERVIEW JÖRN KABISCH

taz: Herr Pigott, was haben Sie gedacht, als eine deutsche Zeitung mit Ihnen über englische Marmalade reden wollte?

Stuart Pigott: Es hat mich sehr überrascht. Die allermeisten Deutschen sind schwer erschrocken, wenn sie die englische Bitterorangen-Marmelade das erste Mal probieren. Ich erinnere mich an ein Frühstück mit einem Kollegen. Er ließ das Brot auf den Teller fallen und sagte: „Aargh. Die Marmelade ist bitter und die Butter salzig.“ Und ich sagte: „Ja, genau.“

Warum schmeckt den Deutschen nicht, was den Briten schmeckt?

Tja, für mich ist es eine Köstlichkeit.

Ich hoffe, Sie kennen auch Ausnahmen von der Regel?

Natürlich. Es gibt auch unter Deutschen weltoffene Leute, die gerne exotische Sachen probieren und essen. Und dann begeistert sind.

Woher kommt diese britische Vorliebe für Bitteres zum Frühstück?

Ganz einfach. Wir wachsen mit dieser Art von Marmelade auf. In meiner Familie etwa ist sie eine Selbstverständlichkeit. Nicht in der dunklen Hardcore-Variante, sondern in einer etwas süßeren goldgelben Ausführung. Die hat aber auch noch eine bittere und für viele gewöhnungsbedürftige Note.

Wie bitte, es gibt auch noch verschiedene Varianten?

Selbstverständlich. Unendlich viele.

Aber diese Marmelade wird doch nur aus Zucker und Bitterorangen gekocht, in Deutschland auch Pomeranzen genannt.

Trotzdem. Es ist ein Unterschied, wie die Orangenschale in den Topf wandert. Briten unterscheiden zwischen Coarse Cut und Fine Cut, dick oder dünn geschnitten. Und dann verändert sich die Marmelade auch noch, je länger man sie kocht. Sie wird dunkler und bitterer, eben die Hardcore-Variante. Sollen wir noch mehr ins Detail gehen?

Bitte.

Das ist nun keine britische Eigenart. Nehmen Sie beispielsweise Espresso. Welcher Erwachsene hat schon bei der ersten Begegnung gesagt: Ja, das ist es. Man muss lernen, damit umzugehen. Aus meiner Sicht gehört die bittere Marmelade in diese Welt, in der sich auch Espresso, Bitterschokolade oder Radicchio bewegen. Die bittere Komponente verleiht ihr das, was wir Weinkritiker als Komplexität bezeichnen. Ein Spiel zwischen Säure, Süße und Bitterkeit. Das erinnert sogar an manche Weine. Und da ist bei vielen Menschen ein bestimmtes Suchtverhalten feststellbar.

Dann gibt es bei Ihnen morgens auf dem Tisch immer Orangenmarmelade?

Nein, nicht immer. Vor allem, weil man den guten Stoff außerhalb Englands schwer bekommt. Heute gab es eine Marillenkonfitüre aus der österreichischen Wachau, eine fruchtig-lustige helle Sache, genau das Gegenteil einer Orangenmarmelade mit ihrer dunklen Seele.

Sie leben seit Jahren in Deutschland, jetzt in Berlin und New York. Wenn der Stoff so schwer zu beschaffen ist: Haben Sie da noch nie daran gedacht, die Marmelade selbst zu kochen?

Ich habe mehrfach dabei geholfen. Aber diesen Wahnsinn noch nie im Alleingang unternommen.

Die Zubereitung einer Orangenmarmelade ähnelt einem Eintopf. Sie muss stundenlang kochen.

Wie gesagt: ein Wahnsinn und ein Ritual. Viele der besonderen Süßigkeiten der Engländer sind sehr langwierig in der Zubereitung – wie etwa auch Christmas Pudding oder Tea Cake, unser Stollen. Wenn man sie traditionell zubereitet, sollte man sich gleich einen Tag frei nehmen. Aber die Engländer haben damit kein Problem. Das ist wie beim Cricket. So ein Spiel dauert traditionell fünf Tage. Das kann man sich nur erlauben, wenn man das Selbstbewusstsein eines Empires hat. Die Orangenmarmelade ist ein Erbe davon. Die Erzeugung von billigem Zucker aus Zuckerrüben ab Mitte des 19. Jahrhunderts ist auch ein wichtiger Teil der Geschichte.

Die Orangenmarmelade ist also nach wie vor ein fester kulinarischer Bestandteil der englischen Kultur?

Und wie! Auf keiner County Show, und die Bauernfeste gibt es im ganzen Land, darf die Marmelade fehlen. Sie ist vielleicht sogar eine der Hauptsachen. Ich erinnere mich an solche Veranstaltungen im Ort meiner Großeltern, in Devon. Die County Show fand im August statt. Orangenmarmelade hat eigentlich im Januar oder Februar Saison. Dann sind die Früchte reif, dann wird eingekocht. Aber für die County Shows wird den Gläsern noch eine Reifezeit von sechs Monaten gegönnt.

Die richtigen Früchte kommen aus der Gegend um Sevilla in Spanien. In Deutschland kennt man sie kaum. Wird die ganze Ernte dann im Winter nach Großbritannien gebracht?

Nein, die Orangen kommen auch nach Deutschland, es ist aber recht schwierig, sie zu bekommen. In England hat meine Mutter sogar einen Lieferanten gefunden, der vorgeschnittene Orangen verkauft. Sie ist achtzig und sie hat Rheuma. Das Schneiden kann sie nicht mehr. Aber es ist für sie eine Selbstverständlichkeit, im Winter in die Produktion zu gehen. Genauso wie ihre Mutter, die das bis neunzig gemacht hat.

Dann gibt es also ein festes Familienrezept.

Es gibt mehrere. Meine Mutter steht auf die leichtere Variante. Ich bin eher ein Vertreter der Hardcore-Version.

Also sehr dunkel, sehr bitter.

Na ja, wenn schon, denn schon.

Also nichts für Weicheier.

Als Brite würde man sagen: nichts für Softies.

Die Essecke: Jörn Kabisch befragt auf dieser Seite jeden Monat Praktiker des Kochens. Außerdem im Wechsel unsere Korrespondenten, die erzählen, was man in ihren Ländern auf der Straße isst, Philipp Maußhardt über vergessene Rezepte und Sarah Wiener, die aus einer Zutat drei Gerichte komponiert.