TANIA MARTINI LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Ein Prozent hat ein Viertel des Einkommens

Es gibt eine Form der Kritik, die ihren Gegenstand zum Verschwinden bringt. Eine Kritik, die zuallererst im Zuordnen besteht, die einstuft und damit immer eine Sache mit einer anderen gleichsetzen, identizieren muss. Wer solche Kritik übt, möchte besser wissen und besser sein als die Praxis, die er beschreibt. Darin besteht die grundsätzliche Trennung dieses Kritikers von der sozialen Welt, der er sich nur urteilend nähert.

Viele linke Kritiker haben eine solche Position gegenüber den Occupy-Protesten eingenommen. Aus dem Ohrensessel heraus verurteilen sie die Naivität, kennen die Sackgassen, in die die Leute auf den Straßen laufen werden. Die Fehler aus einer anderen Zeit werden beschworen wie das kapitalistische System als solches, das immer schon als Erster und modernisiert im Ziel ankommen werde. Die da draußen seien bloß vom konsumistischen Exzess getrieben, war zu lesen. Es geht wohl um die Frage, wie man richtig widerständig ist.

Ein kleines Buch in der Reihe edition suhrkamp digital, die gerade gestartet ist, dokumentiert die ersten Wochen der New Yorker Occupy-Proteste im September und Oktober. „Occupy!“, so der Titel, versammelt Tagebucheinträge und Artikel von Aktivisten aus Gazette, der Zeitung, die von Publizisten des Magazins n+1 herausgegeben worden ist und an den besetzten Orten verteilt wurde. Es dokumentiert die Heterogenität, die unterschiedlichen Zugangsweisen und Hintergründe, und spiegelt sehr gut das gemeinsame Bedürfnis der Aktivisten im Financial District, eine Stimme zu bekommen. Das wirklich Interessante jedoch ist, dass diese Aktivisten dabei sind, ein Archiv über sich selbst anzulegen, das seine Wucht aus dem unbedingten Zurschaustellen eines enteigneten Lebens bezieht. Auf www.wearethe99procent.tumblr.com wird es fortgeführt; dort hinterlassen sie kleine Notizen über ihr subjektives Elend. „Eine Gesellschaft, die ein solches Dokument hervorzubringen vermag, befindet sich unzweifelhaft in den Geburtswehen eines unerfreulichen Übergangs“, heißt es in „Occupy!“. Die Notizen, sie sind ein Dokument des Übergangs, und sie werden bleiben. Das Archiv zeigt, die Frage wird künftig sein, was als Leben zählen wird. Und vielleicht müssen wir zunächst, wie Judith Butler einmal sagte, „mit den Gewohnheiten des Urteilens zugunsten einer riskanteren Praxis brechen“.

Die Autorin ist Redakteurin für das Politische Buch Foto: privat