Bestien wie wir

GLAUBENSKRIEGER Sie verbrennen Menschen. Sie zerschlagen die Schätze unserer Kultur. Die Kämpfer des „Islamischen Staates“ erscheinen als Barbaren. Unsere Reporterin hat in Syrien viele Dschihadisten getroffen. Sie beschreibt eine Truppe aus Fundamentalisten, Mitläufern und Abenteurern

■ Ende 2003/Anfang 2004: Abu Mussab as-Sarkawi, der Chef der al-Quida im Irak, gründet die Organisation Gemeinschaft für Tauhid und Dschihad (JTJ), Vorläufer des IS. Ab 2006 heißt die Gruppe Islamischer Staat im Irak (ISI), der Name ändert sich noch mehrfach.

■ März 2011: Erste Massenproteste in syrischen Städten gegen das Assad-Regime. Ausbruch des Bürgerkriegs.

■ April 2013: Offene Feindschaft zwischen der der al-Quida verbundenen syrischen Rebellengruppe al-Nusra und IS. Viele Nusra-Kämpfer erklären ihre Loyalität gegenüber IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi.

■ Mai 2013: Der IS erobert syrisches Territorium. Eines der ersten Ziele ist die Stadt Rakka – heute inoffizielle Hauptstadt.

■ Juni 2014: IS-Offensive im irakischen Nordwesten. Besetzung der Städte Mossul und Tikrit.

■ August 2014: 40.000 Jesiden vom IS im Sindschar-Gebirge eingekesselt. USA fliegen erste Angriffe auf Stellungen des IS.

VON FRANCESCA BORRI

Die letzte Front, von der ich berichtet habe, war Kobani, die belagerte Stadt an der Grenze zur Türkei. Das war Ende des vergangenen Jahres. Die Dschihadisten waren da. Nur wenige Meter entfernt. Am nächsten kam ich allerdings nur einer Leiche: Ich sah sie durch das Visier eines Scharfschützengewehrs.

Ich verfolgte die Kämpfe jeden Tag von der türkischen Grenze aus. Ich kam mir nicht nur vor wie auf einem Hügel, sondern auch wie in einer Metapher. Wie in dem Bild des Fotografen Bulent Kilic. Es zeigt einen Luftangriff, eine Explosion, und einen Dschihadisten, der davonläuft, ein winzig kleiner Dschihadist. Kilic nahm das Foto mit einem gigantischen Teleobjektiv auf. Seit immer wieder Reporter entführt werden, haben wir keine andere Möglichkeit. Wir können nur aus der Ferne zusehen. Und aus der Ferne sind die Dschihadisten schwarze Silhouetten.

Wir sind seit vier Jahren hier. Das Einzige, was sich geändert hat: Wir berichten nicht mehr nur über Syrien, sondern auch über den Irak. Der IS war für uns nichts Neues. Er war Teil einer Entwicklung. Jedes Mal, wenn wir wieder nach Aleppo kamen, hatten sich die Bad Guys von früher in die Good Guys von heute verwandelt, weil eine noch extremere Extremistengruppe aufgetaucht war.

Zu Beginn des Jahres 2013 hatten wir alle Angst vor der Ahrar al-Scham, der ersten Dschihadistengruppe. Im Frühjahr dann verteidigte uns die Ahrar al-Scham schon vor der Al-Nusra-Front – die uns wenig später vor dem IS schützen sollte.

Am 14. November 2013, während die jungen Männer von Ahrar al-Scham das Elektrizitätsnetz erneuerten, Wasserleitungen reparierten und Bäume umpflanzten, köpfte der IS im Al-Sarsur-Krankenhaus einen Patienten. Benommen von der Anästhesie, soll er etwas gemurmelt haben, das die sunnitischen Kämpfer für ein schiitisches Gebet hielten. Erst als sie ihn geköpft hatten, fiel ihnen auf, dass er einer von ihnen war.

Je länger sie da waren, desto radikaler wurden die Kämpfer. Sie wurden radikaler wie auch der Krieg radikaler wurde. Wie auch Assad sich radikalisierte.

Es hatte mit friedlichen Demonstrationen begonnen. Statt Schlagstöcken setzte das Regime bald Kugeln ein und statt Kugeln irgendwann Granatwerfer, aus den Granatwerfern wurden Hubschrauber aus den Hubschraubern Panzer und aus den Panzern Raketen, Düsenjets, Chemiewaffen – und Fassbomben. Dafür braucht man nur Benzin, TNT und Metallsplitter. Das ist billig, 200 Dollar, statt der 500.000, die eine Scud-Rakete in Syrien kosten kann. Also regnet es Fassbomben. Tag für Tag.

Ja, sie haben sich radikalisiert. Im Angesicht unserer Gleichgültigkeit. Unserer Verzweiflung.

Aber wer verbirgt sich nun hinter dieser schwarzen Silhouette? Könnte es einer sein wie Giuliano Delnevo, der 20 Jahre alte Italiener, der zum Islam konvertierte, verletzlich, verloren, der sich mit seinen Eltern ständig stritt, der, hätte er jemanden von Hare Krishna getroffen, heute vielleicht an einer Straßenecke herumtrommeln würde, ganz in Orange?

Oder ist es vielleicht ein Fundamentalist wie der Deutsche B., der schwor, meine Kehle durchzuschneiden, weil ich geschrieben hatte, in Aleppo würden die Menschen nicht mehr von Regime-besetzten und Rebellen-besetzten Gebieten sprechen, sondern nur noch von Ost-Aleppo und West-Aleppo? Der meinte, mit diesen Formulierungen würde ich seine Rolle und die der anderen so kleinreden, dass ich den Tod verdient hätte.

Es könnte auch einer sein wie I., der ruhige ägyptische Ingenieur, der mich tausende Male zum Abendessen bekocht hat, weil ich mich nur von Keksen ernährte. Der sich über mich wunderte, weil ich finde, es wäre eine zu harte Strafe, einem Dieb die Hand abzuhacken, nur weil er mein iPhone geklaut hatte.

Wer verbirgt sich hinter dieser schwarzen Silhouette? Ein Opportunist wie A., der sich immer auf die Seite schlägt, die gerade die Macht hat? Ein Englischlehrer, der ausländische Journalisten herumführte und für sie übersetzte, weil er dafür 500 Dollar am Tag bekam, und der der Freien Syrischen Armee beitrat. Und der, als der Islamische Staat Aleppo übernahm, zu den Dschihadisten ging. Und der sie wieder verließ, sobald der IS aus Aleppo vertrieben wurde und seitdem das Regime unterstützt.

Oder verbirgt sich hinter der Silhouette einer wie M., in dem der Hass wütet, den die Verbitterung hart gemacht hat wie eine Mauer? Als ich ihn zum ersten Mal traf, trug er einen Metallica-Hoody. Er war Punk. Er arbeitete für eine NGO aus dem Westen. Er kommt aus einer wohlhabenden Familie, hatte mit seinem Bruder London und Paris besucht. Sein iPod lief ständig, ein Aktivist des Arabischen Frühlings. Doch jedes Mal, wenn ich in sein Büro kam, war wieder jemand gestorben, und er war wieder ein wenig stiller geworden, ein wenig aggressiver und ein wenig religiöser. Falls er noch lebt, kämpft er irgendwo in den Außenbezirken von Aleppo.

Es könnte auch sein, dass er ist wie K., der schon öfter mein Fahrer war, der großzügigste Mensch, den ich kenne. Einmal sah ich, wie er in der Kälte seinen Schal und seine Jacke auszog, sogar seine Schuhe, um ein Kind zu wärmen – dabei hatte er kaum etwas zu essen für seine eigenen Kinder. Er arbeitet als Logistiker bei einer Gruppe des IS, die humanitäre Hilfe leisten soll.

Genauso gut könnte die Silhouette auch M. sein, der Amerikaner. Ein Idealist, ein Abenteurer, einer, der in New York oder Berlin als cooler Typ durchgehen würde. Ich traf ihn in der Türkei, in Kilis an der syrischen Grenze.Wir fingen an über den Dschihad zu sprechen, am Ende redeten wir über Kitesurfen. Sein Glaube ist ein Mix aus Islam, Frantz Fanon, Jack Kerouac und Zitaten aus den Simpsons. Er glaubt, dass er in Syrien für Gerechtigkeit kämpft. Was auch immer diese Gerechtigkeit ist, viele Dschihadisten wiederholen das Wort immer wieder, und ich verstehe nie, was sie eigentlich meinen. M. ist wie viele Kämpfer aus dem Westen, die von den hungrigen syrischen Kindern sprechen, derentwegen sie hier sind, die fasziniert sind vom größten Abenteuer ihres Lebens, dem Projekt zur Rettung der Menschheit. Die vielleicht nie an der Front kämpfen werden, weil sie dort nur Belastung sind, untrainiert, unerfahren. Aber gute Werkzeuge für die Propaganda.

Vielleicht ist es aber auch ein Tschetschene wie K., der am Flughafen gekämpft hat, der nach Syrien kam, weil Russland, das Assad unterstützt, seine Familie ausgelöscht hat.

Oder aber auch L., der Richter, der von sich sagt, dass er das Recht anwendet und nichts sonst. Er ist mit K., dem Fahrer, in die Grundschule gegangen, sie sind Nachbarn, Freunde. L. befolgt Befehle, ohne sich dabei allzu viel zu fragen, und er wendet jetzt eben die Scharia-Gesetze an, weil die an der Macht sagen, er solle jetzt die Scharia-Gesetze anwenden. Ein grauer Beamter, die Stütze eines jeden Regimes, ein Italiener unter Mussolini.

Oder der Junkie mit der Überdosis, den sie tot in Kobani fanden, mit einem Packen Kokain, obwohl sie beim IS nicht einmal rauchen dürfen, weil sie sonst der Zorn Gottes trifft.

Wer verbirgt sich hinter dieser Silhouette?

Niemand würde die Naziherrschaft heute als das bloße Ergebnis von Hitlers Irrsinn beschreiben. Niemand kann mehr den Zusammenhang zwischen Moderne und Holocaust leugnen, über den der Soziologe Zygmunt Bauman so großartig schrieb. Den Feind zum bloßen Schlachter zu erklären, zum Deppen, führt zu nichts.

Ich habe in den vergangenen Monaten viele Dschihadisten getroffen. Keinen Dschihadi-John, der Menschen mit Lust die Köpfe abschlägt. Vielleicht lassen die blutrünstigsten Kämpfer des IS keine Journalisten in ihre Nähe, ich kann nur über die schreiben, denen ich begegne. Und über die habe ich mir keine klare Meinung gebildet. Noch nicht. Ich habe immer noch nicht verstanden, wer sie sind. Was sie wollen.

Aber ich weiß, dass sie niemanden mit lebenden Skorpionen bombardieren und auch nicht heulend nach Hause rennen, weil sie in Syrien merken, dass es kein Twix gibt. So stand das in den lächerlichsten Artikeln, die ich gelesen habe. Es ist auch nicht sonderlich erhellend, sie als Terroristen zu bezeichnen, weil Terrorismus ein beschreibender Begriff ist. Er bezieht sich auf die Taktiken, die jemand nutzt, um Einfluss zu nehmen. Der Begriff erklärt nichts.

Da ist nur eine große Staubwolke.

Ich war mehrmals beim Islamischen Staat embedded, im Oktober 2013 war ich mit ihnen in Aleppo. In diesen Wochen sagten die Schlagzeilen: Aleppo vom IS eingenommen. Die Kämpfer waren aber dieselben wie immer, fast alle. Sie hatten nur die Fahnen gewechselt. Im Juli war der gewählte ägyptische Präsident Mohammed Mursi von der Armee gestürzt worden, ein Putsch. Die Schlagzeilen sprachen von einer zweiten Revolution.

In Syrien trennten sich damals die Islamisten von den anderen Rebellen. Sie sahen Ägypten als Signal, dass die Macht für sie nicht mit Demokratie zu gewinnen war.

Im August 2013 sahen wir auf YouTube den Chemiewaffenangriff auf die Vororte von Damaskus und warteten, dass die USA reagieren würden. Nicht unbedingt mit Truppen. Mit mehr diplomatischer Härte gegen Assad, Verhandlungen mit seinem wichtigen Verbündeten Iran oder der Türkei. Irgendwie. Es passierte nichts.

Das war der Moment, in dem die Syrer begriffen, dass sie alleine waren.

Die Tage mit dem IS waren die seltsamsten, die ich erlebt habe. Es war schwer zu begreifen. Viele Leute mochten den IS. Es war eine Mischung aus Angst – jener Angst, die alle Syrer empfinden, den Rebellen gegenüber, Assad gegenüber – und echter Unterstützung. Diese Unterstützung hieß nicht, dass man den Islamischen Staat von ganzem Herzen akzeptierte. Wer wusste schon, was Scharia-Gesetze genau bedeuteten? Wir sprechen hier von 350 Versen. 350 von über 6.000 aus dem Koran und den Überlieferungen aus dem Leben Mohammeds, die auf unterschiedlichste Art interpretiert werden können. Die Leute erhofften sich eher Normalität. Monatelang hatten die Rebellen alles geplündert, die Stadt auseinandergenommen und Stück für Stück verkauft. Der IS brachte Ordnung. Seine Leute verteilten Mehl, Fleisch, Milch, Reis – in einer Stadt, in der Kinder Pappe fraßen.

„Der wahre Barbar ist der, der denkt, alles außer seinen eigenem Geschmack und seinen eigenen Vorurteilen, wäre barbarisch“

William Hazlitt (1778–1830), englischer Schriftsteller

„Fatalerweise liefert der Terminus ‚Barbar‘ das Paßwort, das den Zugang zu den Archiven des 20. Jahrhunderts öffnet. Es bezeichnet den Leistungsverächter, den Vandalen, den Statusleugner, den Ikonoklasten, den Verweigerer der Anerkennung für jede Art von Ranking-Regel und Hierarchie“

Peter Sloterdijk, Philosoph

„Hier bin ich ein Barbar, weil mich niemand versteht“

Ovid, (43 v. Chr.–17 n. Chr.): Der römische Dichter beklagt sich über seine Verbannung zu den Barbaren ans Schwarze Meer

In Aleppo habe ich keinen einzigen Sack Reis mit UN-Logo gesehen. Als die Fassbomben aus den Hubschraubern fielen und Dutzende Syrer starben, grübelten sie bei der UN gerade, ob man einen humanitären Korridor schaffen sollte, um Zivilisten zu evakuieren, oder eine Flugverbotszone, oder lieber den Rebellen Flugabschussraketen liefern, oder eine Resolution im UN-Sicherheitsrat, oder doch einfach: gar nichts, denn gerade war der Krieg in der Ukraine ausgebrochen und da musste man vorsichtig sein, Russland nicht zu verärgern. Die UN redeten und redeten und redeten. Assad bombardierte und bombardierte und bombardierte, unablässig. In Aleppo karrten die Dschihadisten sechs alte Busse zusammen und begannen einen Shuttle-Service für Zivilisten – Richtung türkische Grenze. Für viele Syrer ist der IS nicht der britische Typ, der dir den Kopf abschneidet. Es ist ein Fahrer dieser Busse.

Hinter dem Wort Kalifat verbirgt sich beim Islamischen Staat kein klares politisches Projekt. Es ist schwer zu sagen, was an der Erzählung von einer zentralen Gewalt, die alles kontrolliert, wahr ist und was dschihadistische Propaganda. Die Stärke des Islamischen Staates liegt in der Vagheit seiner Ideologie: Jeder Kämpfer kann daran glauben und sich darunter vorstellen, was er möchte. So hält das Netzwerk der bewaffneten Gruppen, die behaupten, einem Kalifen zu folgen, zusammen. Und wir, auf der anderen Seite, können uns jeder den Feind im IS vorstellen, den wir möchten. Den wir brauchen.

Soweit ich es erlebt habe, gibt es zwei zentrale Unterscheidungen: die zwischen Zivilisten und Kämpfern. Und die zwischen Einheimischen und Ausländern. Die Ausländer, besonders die Kämpfer, scheinen an einem abstrakten Ort zu leben, jederzeit bereit, weiterzuziehen, die Ruinen zu vergessen. Die Einheimischen dagegen, vor allem die Zivilisten, kümmern sich oft um Hilfe, um Wiederaufbau, bei ihnen ist die Verbundenheit zu ihrem Land stärker, sie hören noch das ferne Echo des Pluralismus, den sie erlebt haben. Erinnerungen an einen schiitischen Nachbarn, einen christlichen Freund.

Die dritte Unterscheidung ist später hinzugekommen: Es ist eine zwischen Syrien und dem Irak. Der Irak zerfällt, den Irak gibt es nicht mehr. In Syrien wiederum steht Assad weiterhin im Zentrum jeder Debatte. Er bleibt für die Rebellen, für die meisten Syrer der Feind Nummer eins.

In Syrien könnten die Flaggen wieder wechseln. Was alle Dschihadisten, ob aus Grosny oder Paris, verbindet, ist das tiefe Gefühl von Ungerechtigkeit, die Frustration, außen vor zu sein. Sie fühlen sich ausgeschlossen. Es ist von Fall zu Fall unterschiedlich, aber immer geht es um das Gefühl, nicht dazuzugehören. Ob diese Gefühle etwas mit der Realität zu tun haben, ist für das Töten in Syrien und im Irak bedeutungslos, denn für die Dschihadisten sind sie real.

Diese Gefühle gipfeln in der Forderung, die im Nahen Osten nicht nur Dschihadisten erheben: Grenzen müssten neu gezogen werden, Regierungsmodelle sich ändern, der Staatsbegriff neu definiert. Davor haben wir im Westen große Angst: dass daraus ein Dominoeffekt werden könnte. Auch vor den Kurden haben wir Angst. Denn diese Kurden kämpfen nicht nur gegen den IS, sie kämpfen auch wie kein anderes Volk für die Verschiebung von Grenzen. „Wir haben alle einen Bruder im Jemen und eine Tante in Marokko. Die Grenzen, die nach dem Ersten Weltkrieg für uns gezogen worden sind, ergeben keinen Sinn“, hat mir M. neulich gesagt. „Diese Grenzen sind für uns unüberbrückbare Hürden. Ein Visum zu bekommen ist ein Albtraum. “ Er war 14 Tage alt, als sein Vater starb. „Für meine Mutter mit ihren vier Kindern war unser Cousin Omar die einzige Unterstützung. Hier hilft dir nicht der Staat wie bei euch in Europa. Unser Staat ist Assad, der in seinem Palast sitzt und sich nur um sich kümmert. Wenn du harte Zeiten durchmachst, unterstützt dich nur deine Familie. Das Einzige, was der Staat je für mich getan hat, war, meinen Cousin Omar zu verhaften und ihn wegen seiner Verbindung zu den Muslimbrüdern elf Jahre einzusperren. Dann hat er Abd festgenommen, meinen Lehrer, der mich liebte wie einen Sohn. Ihn hielt er 30 Jahre im Gefängnis fest. Das Einzige, was der Staat für mich getan hat: Er hat mich zum Waisen gemacht. Drei Mal.“

M. hat früher Englisch unterrichtet, bis vor drei Jahren. Heute unterrichtet er die Scharia und ist ein Mitglied al-Qaidas.

Ich traf ihn, weil ich seine Entscheidung verstehen wollte, seinen Wandel, seine Welt. Während er sprach, weinte er. Es war das erste Mal, sagte er, dass jemand seiner Geschichte zuhörte. Das erste Mal, dass er den Eindruck hatte, sie sei bedeutsam.

Die Leute fragen mich, ob ich Islamisten verharmlosen will, wegen dem, was ich schreibe. Vermenschlichen. Nein. Auf gar keinen Fall. Islamisten sind Menschen. Wie wir. Ich halte nichts von ihren Ideen. Sie sind auch nicht die Opfer ihrer traurigen Kindheit, ihrer Verluste, sie sind wie wir verantwortlich für ihre Taten. Ich habe syrische Frauen getroffen, die ihre Kinder verloren haben. Manche kämpfen jetzt selbst, andere haben Waisenkinder bei sich aufgenommen. Die Dschihadisten haben wie alle Menschen eine Wahl und sie haben die ihre getroffen. Trotzdem habe ich keine klare Meinung. Bisher. Ich kann es nur wiederholen: Ich habe immer noch nicht verstanden, wer sie sind. Was sie wollen. Sie sind so verschieden. Widersprüchlich wie die Interpretationen des Koran. Komplex wie wir alle.

Aus dem Englischen von Johannes Gernert

Francesca Borri, 35, arbeitete als Menschenrechtsaktivistin in Israel und Palästina. Seit 2012 berichtet sie als freie Journalistin aus Syrien