Gespräche vor dem Erwachen

Westernhelden, Science-Fiction und jede Menge philosophische Fragen: In den Dramen von David Lindemann ist das Denken ein Abenteuerspielplatz. Sein Stück „Enter Sandman“ – nach dem Sci-Fi-Film „Logan’s Run“ – wird im Gorki-Studio uraufgeführt

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Sehr seltsam sind die Geschichten, die David Lindemann für das Theater schreibt. Die Frage etwa, wo seine Stücke eigentlich spielen, ist nicht einfach zu beantworten, denn fast immer legen sich unterschiedliche Bildwelten übereinander. Da gibt es zum Beispiel den unerfahrenen Offizier DeBuin, den David Lindemann durch eine Western-Trilogie begleitet hat. Schon zu Beginn der Trilogie, in „Ulzanas Rache“, wechseln in den Gesprächen, die DeBuin mit seinem Scout, dem Chiricahua-Apachen KenNiTay, während der Suche nach einem geflohenen Häuptling führt, die Kriegsschauplätze manchmal von Satz zu Satz. Serbien taucht neben dem Irak und Arizona auf. Aber die Fragen, die DeBuin bewegen und in ihrer Unbeantwortbarkeit auch das Stück, sind überall dieselben: Warum diese Grausamkeit? Warum Folter? Warum Rache?

Als David Lindemann an diesem Stück saß, war Abu Ghraib in aller Munde. Er arbeitete in der Spielzeit 2004/05 als Dramaturg an der Volksbühne, im dritten Stock an einer kleinen Spielstätte für junge Autoren und Regisseure. Das Büro, in dem er schrieb, lag direkt neben der Bühne und er hörte zunächst im Hintergrund die Stimme eines serbischen Kollegen. Für ihn, der dann in der Aufführung auch den KenNiTay spielte, schrieb Lindemann das Stück. Und ihre Auseinandersetzung über kulturelle Unterschiede spiegeln sich in den Szenen wider.

„Dass man manchmal etwas aushalten muss, ohne es verstehen zu können, das lernt man als liberal erzogener Mensch sehr schwer“, sagt Lindemann, und das war eines der Themen, die ihn beim Schreiben bewegt haben. Ein anderes Motiv war die Frage, wie viel sich in die Sprache verlegen lässt. Denn zunächst einmal scheint sich das auszuschließen, der Western, das große Panoramaformat, das von der Weite der Landschaft und der Bewegung in ihr lebt – und die kleine Studiobühne, fürs Kammerspiel mit ein, zwei, drei Personen ausgelegt. „Alles muss da durch das Nadelöhr der Sprache.“

Auch für sein neues Stück „Enter Sandman“, das am Samstag im Studio des Maxim Gorki Theaters mit Studenten der Schauspielschule Ernst Busch uraufgeführt wird, gibt es eine Vorlage, einen Science-Fiction-Film der 70er-Jahre, „Logan’s Run“ (von Michael Anderson). Die Regisseurin Mareike Mikat, die schon ein Stück Lindemanns in Heidelberg inszenierte, schlug ihm das vor. Und wieder ist der populäre Stoff Träger von Bewegungen, die sich alle in Gedanken und in der Sprache abspielen. Das Diskutieren, der Wunsch, etwas bis zum Ende zu durchdenken und auf den Punkt zu bringen, das treibt in „Ulzanas Rache“ ebenso wie in „Enter Sandman“ die Protagonisten an. Aber nie erreichen sie dies Ziel; wie bei einem Spiel, das abbricht und wieder von vorne beginnt, entspinnen sich immer neue Gesprächsrunden.

In „Enter Sandman“ soll der 21. Geburtstag zugleich der letzte sein. Das hat, so erfahren wir von den drei Jungen und zwei Mädchen, die kurz davor stehen, der „große Denker“ so eingerichtet. Mit dem 21. Geburtstag geht man „freiwillig“ in den Tiefschlaf, um einem neuen Leben Platz zu machen. Die Probleme um Überbevölkerung, knappe Ressourcen und das Ozonloch sind damit bewältigt. Natürlich verändert sich der vertrauensselige Blick darauf, dass alles so gut geregelt ist, ganz rapide mit dem Näherrücken des 21. Geburtstages.

„Wenn man heute jung ist“, denkt David Lindemann, selbst 1977 geboren, „hat man das Problem, dass es keine eindeutigen Feindbilder und keine Opposition gibt. Kritik ist ja eingemeindet, sie wird in liberalen Institutionen überall gefordert.“ Von diesem Gefühl, wie in Watte gepackt zu sein, nicht aufwachen zu können und den Verlust einer eigenen Richtung mehr zu ahnen, als benennen zu können, handelt seine Bearbeitung des futuristischen Stoffes.

Was ist Freiheit? Wie fühlt sich Verantwortung an? Je länger man die Gespräche der Jungen und Mädchen liest, desto weniger überrascht, dass der Autor Philosophie und Soziologie studiert hat, in Bielefeld und in Berlin. Vor allem das Soziologiestudium schätzt er heute als ein nützliches Instrument für das Schreiben von Theaterstücken ein: Man lernt die Dinge mit einem nüchternen Blick, ohne moralische Wertung anzuschauen und seine Figuren in Versuchsanordnungen auszusetzen. Aber weil diese Nüchternheit allein dann doch nicht auszuhalten ist, braucht es auch die andere Seite, das Spiel mit den Formaten bigger than life.

Diese Spannung zwischen einem analytischen Ansatz und dem Wunsch, doch ganz nah an die Figuren heranzurücken und in ihre Emotionen einzutauchen, hat auch das Stück geprägt, mit dem David Lindemann zuerst bekannt wurde, „Koala Lumpur“. Es wurde 2002 auf dem Stückemarkt des Theatertreffens ausgezeichnet und nach der Uraufführung in Bochum mehrfach nachgespielt. Für David Lindemann war das das Signal, die Soziologenlaufbahn sausen zu lassen und ganz auf das Theater zu setzen. Inzwischen hat er sieben bis acht Stücke geschrieben, als Dramaturg gearbeitet und erlebt die Zweischneidigkeit des Status als junges Talent: Er ist zu bekannt, um noch entdeckt zu werden, aber nicht bekannt genug, um von den kleinen Bühnen und Nachwuchsprogrammen loszukommen.

„Enter Sandman“, Studio des Gorki-Theaters, 8. Dezember 20 Uhr Uraufführung, wieder am 15. und 27. Januar