Für das Nebeneinander verschiedener Weltbilder

ANTHROPOLOGIE Der Ethnologe Philippe Descola will mit seinem Buch „Jenseits von Natur und Kultur“ die Reduktion auf binäre Oppositionen überwinden

All dies läuft auf das Postulat einer Universalität der Natur hinaus. Das führt zur Ausweitung der Menschenrechte auf die Tiere

Die Trennung zwischen Natur und Kultur, zu der auch die von Subjekt und Objekt, Fakt und Fetisch gehört, charakterisiert die Moderne. Im Gegensatz zu dem französischen Ethnologen Philippe Descola will der mit ihm „verbündete“ Wissenssoziologe Bruno Latour vor diese Unterscheidungen zurück. Dennoch gehen beide davon aus, dass sich mit der modernen Weltsicht, in der die „Vielfalt alles Existierenden“ auf binäre Oppositionen reduziert wird, die Komplexität der Zusammenhänge nicht mehr erfassen lässt.

Latours wie Descolas Methode, die Dichotomien neu zu mischen, lässt sich auf die Formel „Folge den Akteuren“ bringen – denn diese haben schon immer die „Substanzen“ vermischt. Aber während Latour dabei mikrosoziologisch vorgeht, hat Descola einen diachronischen und synchronischen Zugang gewählt: Zum einen zeichnet er die abendländische Entwicklung der modernen Trennungsbegriffe Natur und Kultur nach und zum anderen vergleicht er unser daraus resultierendes Weltbild mit denen von anderen Völkern rund um den Globus.

Ausgangspunkt für Descola ist seine Feldforschung in Brasilien, wo er seinem Lehrer, dem Begründer der „strukturalen Anthropologie“, Claude Lévi-Strauss, quasi nachfolgte: „Am Unterlauf des Kapawi, eines Flusses im Amazonasbecken, habe ich angefangen, mich nach der Evidenz der Natur zu fragen.“ Descolas deutscher Verlag, Suhrkamp, hat dazu gleich noch sein Buch über die Amazonas-Indianer veröffentlicht.

Das Studium der Kosmologien anderer Völker – wie die der Eskimos, Inder, Japaner, Aborigines usw. – bestärkte ihn dann in der Vermutung, „dass die Art und Weise, wie das moderne Abendland die Natur darstellt, etwas ist, was in der Welt am wenigsten geteilt wird“. In seinem Kapitel „Die große Trennung“ hakt Descola an der Renaissance-„Erfindung“ der „Linearperspektive“ ein, die im 15. Jahrhunderts durch die „Mathematisierung des Raumes“ ein „neues Verhältnis einführte zwischen dem Subjekt und der Welt“. Aber „wie üblich beginnt alles in Griechenland“ – das heißt mit Aristoteles und seiner „Objektivierung der Natur“ – zu der jedoch auch noch der Mensch zählte. Erst mit dem Christentum „gelingt“ vollends dessen Abspaltung von den nichtmenschlichen Wesen. Inzwischen hat uns jedoch die Ethnologie (Verhaltensforschung) dahin gebracht, dass wir auch den Menschenaffen so viel Kultur zugestehen, dass sie ethnologisch erforscht werden können. Selbst unser einstiges „Alleinstellungsmerkmal“ – die Sprache – wird inzwischen auf den Gesang einiger Vogelarten ausgedehnt und ist damit keines mehr.

All dies läuft auf das Postulat einer Universalität der Natur hinaus. Angedacht war es bereits beim Soziologen Roger Caillois, für den zum Beispiel die Mimesis von Insekten denselben Ursprung wie die Kleidermode bei den Menschen hat: „Es gibt nur eine Natur!“

Stamm der Schatten

Über kurz oder lang führt dieses Denken zur Ausweitung der Menschenrechte auf die Tiere. In der Schweiz diskutiert man bereits die Rechte von Pflanzen – als Individuen. Ein Kapitel bei Descola heißt: „Das denkende Schilfrohr“. Die sibirischen Tschuktschen gehen noch weiter: Für sie bilden „sogar die Schatten an der Wand besondere Stämme und sie haben ihr eigenes Land, wo sie in Hütten leben und sich von der Jagd ernähren“.

Für viele Stämme der Amazonas-Indianer sind die Tiere und Pflanzen „Personen“, sodass die Menschen „mit den Pflanzen, den Tieren und den sie schützenden Geistern individuelle Beziehungen unterhalten“ können. Descola will das nicht für „wahrer“ als unsere Wahrheiten halten, nur neben der „naturalistischen“ Weltauffassung auch die anderen – „animistischen“, „totemistischen“ und „analogischen“ gelten lassen. Sein kosmologischer Rundumschlag läuft zuletzt auf ein Plädoyer für ein Nebeneinander all dieser Typen „des In-der-Welt-Seins“ hinaus – in einem Verhältnis der „Gegenseitigkeit“, die er für dringend geboten hält.

HELMUT HÖGE

■ Philippe Descola: „Jenseits von Natur und Kultur“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 638 Seiten, 39,90 Euro; „Leben und Sterben in Amazonien“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 471 Seiten, 32,90 Euro