IM BEVÖLKERUNGSAUSTAUSCH VON BERLIN BLEIBEN VERSUCH UND IRRTUM ZWANGSLÄUFIG DAUERGÄSTE DER VERSTÄNDIGUNGSBEMÜHUNGEN : Clash der Kulturen, Mentalitäten und Ausdrucksformen
ULI HANNEMANN
Die Frau ist sauer. Das schließe ich aus ihrem Aushang im Hausflur, von dem aus ein Pfeil auf ein daneben an die Wand geklebtes, aufgerissenes Päckchen weist.
WELCHES ARSCHLOCH KLAUT HIER PAKETE AUS DEN BRIEFKÄSTEN? ICH WILL DEN INHALT WIEDER! WAS WILLST DU ARSCH SCHON MIT KUNSTPOSTKARTEN?
Ich glaube jedenfalls, dass sie sauer ist. Für so etwas habe ich einen siebten Sinn. Meine Menschenkenntnis und mein Fingerspitzengefühl befinden sich seit jeher in einem zähen Ringen um die Pole Position im Line-up meiner edelsten Charakterzüge. Wenn meine Freundin weint, weiß ich zum Beispiel, dass sie traurig ist. Oder enttäuscht. Oder ängstlich. Oder wütend. Oder verzweifelt. Also irgendein Mist eben. Aber keinesfalls fröhlich. Wenn ich nicht gerade Fußball gucke, frage ich manchmal nach. Dann weiß ich es genau. Leute, die schreien, zeigen mir wiederum: Die haben recht. „Wer schreit, hat unrecht“, ist nur Lügenpropaganda der Lobby der Stummen, Leisetreter und Bedächtigen. Beweis: Nur wer sich vollkommen sicher im Recht weiß, kann es sich schließlich leisten, das derart laut herauszubrüllen. Sonst wäre er ja doof.
Überdies vermag ich zwischen den Zeilen zu lesen und aus der Anklage scheint mir beträchtliche Verbitterung zu sprechen. Auch Menschen, die sich Kunstpostkarten bestellen, besitzen eine Seele. Das glaubt man ja oft gar nicht, und darin dürfte auch der Irrtum des mutmaßlichen Diebs gelegen haben: „So eine stumpfe Kunstpostkartensau“, wird er sich gedacht haben, „grunzt garantiert nur hohl vor sich hin: ,Kunstpostkarten, Grunzpostkarten, Brunzpostkarten …‘ Die merkt das sicher gar nicht. Da nehme ich die Ware lieber an mich und betrachte sie liebevoll in meinem Kämmerlein. Da ist sie doch in weit geeigneteren Händen.“
Doch im Gegenteil. Sie hat das voll gemerkt. Und sie ist der Meinung, dass die Karten bei ihr besser aufgehoben sind. Um dieser Meinung eine Stimme zu verleihen, die sich dem Adressaten auch vermittelt, hat sie die Anrede „Arsch“ gewählt. Sie müht sich redlich, sich in ein Milieu hineinzuversetzen, das nicht ihres ist. Genau das ist nämlich der Knackpunkt hier im Haus. Wir wohnen im letzten Block von Hipsterhausen, in dem einige Unbeugsame nicht aufhören, dem Eindringling Widerstand zu leisten. Sie schmeißen mir von oben Kippen auf den Balkon und volle Windeln aus dem Fenster, die nun im Geäst des Hofbaums baumeln. Die zugezogenen netten jungen Leute halten das für eine Kunstaktion, ein starkes Statement, das die Rolle der jungen Familie in unserer Gesellschaft augenzwinkernd vertikal zitiert, vielleicht. Und dann noch diese lustige interaktive Performance bei den Briefkästen. Berlin ist schon echt geil.
Der Bevölkerungsaustausch befindet sich hier in seiner aufregendsten Phase. Ein Clash der Kulturen, Mentalitäten und Ausdrucksformen. Da bleiben Versuch und Irrtum zwangsläufig Dauergäste der Verständigungsbemühungen. „Wenn ich ihn Arschloch nenne“, denkt gewiss die Dame, „wird er das als Entgegenkommen empfinden, weil ich mit ihm in seiner Sprache kommuniziere. Da wird er gewiss gleich freudig zu mir hochtraben und mir meine Kunstpostkarten, zum Rosenmuster sauber aufgefächert, auf einem Silbertablett zurückbringen. Der Arsch.“ Der Täter aber denkt womöglich was anderes. Wenn er überhaupt etwas denkt. Auf den Kunstpostkarten auf seinem Küchentisch ist Kunst abgebildet. Da steht er ja eigentlich nicht so wahnsinnig drauf. Was zum Essen wäre ihm lieber gewesen. Schade. Betrübt wirft er die Beute in den Müll.