Von Monstern und Menschen

VAMPIRE Matt Reeves hat mit „Let Me In“ den Jugendroman „So finster die Nacht“ verfilmt

Der Vampir ist nicht mehr das exotisch Andere, sondern Bestandteil der Gesellschaft

Mit einem Mal steht die Welt Kopf. Sie wirbelt, aus der Kabine eines Autos gesehen, um dessen projektile Achse. Was oben war, ist unten – und umgekehrt. Die Schwerkraft tut das Übrige, um die Körper wie von Zauberhand durch das Wageninnere zu schleudern, während Karosserie und Kamera miteinander verschweißt den Ruhepol bilden, der das eigentümliche Bild überhaupt erst ermöglicht.

Wenn man so will, blitzt hier für einen kurzen Moment die auch bildästhetisch undurchsichtige Gemengelage aus Regisseur Matt Reeves’ vorherigem, strikt aus der Ich-Perspektive handgefilmten Monster-Movie „Cloverfield“ auf. Ganz im Gegensatz dazu ist „Let Me In“, von wenigen Ausnahmen wie dem spektakulären Unfall abgesehen, in betont ruhenden, lange gehaltenen, von Streichertönen ummantelten Einstellungen gedreht, als wäre Reeves um einen Ausgleich der zuvor gesteigerten Kinetik bemüht.

Doch hat das vor allem mit der literarischen, mehr noch mit der filmischen Vorlage zu tun: Der schwedische Film „So finster die Nacht“, basierend auf dem gleichnamigen Roman von John Ajvide Lindqvist, ist eine 2008 zwar weltweit gefeierte, in Deutschland damals allerdings arg im Weihnachtsfeiertageloch versenkte Variation des Vampirstoffs mit den Mitteln des skandinavischen Arthouse-Films. Sie erzählt auf fragile, teils spröde, teils lyrische Art die mit zahlreichen unbehaglichen Untertönen versehene, winterliche Liebesgeschichte zwischen einem an der Schule gehänselten Außenseiter, der heimlich eine Faszination für Serienmörder hegt, und einem rätselhaften Mädchen, das schlussendlich zwar keins ist, dafür aber ein Vampir.

Im Verbund mit der Serie „True Blood“, dem koreanischen Film „Thirst“ und der „Twilight“-Saga bildet „So finster die Nacht“ die jüngste Renaissance des Vampirs in der Populärkultur unter allerdings neuem Vorzeichen: Der Vampir ist nun nicht mehr das exotisch Andere, das von buchstäblich jenseits der Wälder, Transsylvanien, aus eine in sich intakte Gesellschaft unterwandert, sondern Bestandteil derselben mit je dringend zu verhandelndem sozialen Status. Die Koordinaten dieser Geschichte übersetzt Reeves in die frühe Reagan-Zeit, 1983, und damit ins politische Klima der Rekonsolidierung des amerikanischen Konservatismus auf der einen, einer Zuspitzung gesellschaftlicher Zustände auf der anderen Seite. So sorgen denn in „Let Me In“ eingestreute mediale Schnipsel von Reagans Ansprachen, der von der Größe Amerikas oder dem Kampf gegen das Böse spricht, gegen das Amerika sich zur Wehr setzen muss, für eine latente Paranoisierung des Settings.

Dass sich das Böse nicht nur in Gestalt des bluthungrigen Vampirmädchens Abby (Chloë Moretz) längst innerhalb der Gesellschaft bewegt, macht Reeves in der Zuspitzung der Jungenfigur, Owen (Kodi Smit-McPhee) deutlich, dessen Serienmörderfetisch sich hier nicht, wie beim schwedischen Vorbild Oskar, im Sammeln von Zeitungsmeldungen manifestiert: Allein in seinem Zimmer, trägt Owen eine Maske wie aus einem Serienkillerfilm, gibt sich Killerfantasien hin und wirft mit einem Teleskop voyeuristische Blicke in die Wohnungen der Nachbarn.

Auch deshalb bietet er sich als Nachfolger von Abbys „Vater“ (Richard Jenkins) an, in Wahrheit ein ihr vor langer Zeit verfallener Pädophiler, der das nötige Blut besorgt. Dieser stirbt einen qualvollen Tod als gezeichnetes Monster. Dem morbide süßlichem Schluss zum Trotz lässt sich ein vergleichbares Schicksal für Owen erahnen. Zwar verzichtet „Let Me In“ zugunsten klarer Striche leider auf manche Ambiguität der Vorlagen, doch gewinnt der melancholische Kern der Geschichte dadurch an Kontur: Über Kreuz erzählt sich hier das Drama eines Monsters, das ein Mensch sein will, und eines Menschen, der zum Monster werden will. Die Welt steht Kopf.

THOMAS GROH

■ „Let Me In“. Regie: Matt Reeves. Mit Kodi Smit-McPhee, Chloë Grace Moretz u. a. Großbritannien/USA 2010, 116 Min.