Brutal authentisch

Wer übt warum welche Macht aus – und wie wirkt sich das auf den Einzelnen aus? Der Niederländer Aernout Mik übersetzt gesellschaftliche Psychosen in metaphorische Szenen und projiziert diese in Rauminstallationen – derzeit zu begehen im Kunstverein Hannover

Die Regeln und Motive der Handelnden bleiben undurchschaubar. Sie wirken fremd, unheimlich, deutungsoffen

AUS HANNOVER JENS FISCHER

Faszinierend. Erschreckend gelungen. Und paradox, diese abstoßende Sogkraft. Im größten Quadersaal des Kunstvereins Hannover flimmern „Raw Footage“ genannte Bildsequenzen, die der niederländische Künstler Aernout Mik diversen TV-Sendern abgekauft hat: Film- und Videoschnipsel, aufgenommen während des Jugoslawien-Krieges, die aber nie gesendet wurden, weil sie der Sensationslust der Zuschauer offenbar zu wenig Futter bieten.

Aber eben diese szenische Beiläufigkeit funktioniert im Kunstkontext: Bald fühlt sich der Betrachter mittendrin im Alltag des Kriegs, der ethnischen Säuberungen. Die Normalität des Bösen: Friedlich aufgereihte Einfamilienhäuser sind da zu sehen, von denen eines allerdings gerade niederbrennt – wie selbstverständlich. Keine Aufregung, keine Feuerwehr. Eine alte Frau fegt ungerührt den Fußweg. Menschen steigen aus der Straßenbahn, im Hintergrund grollen MG-Salven. Das Leben geht weiter. Kinder spielen in einer zu Schutt und Asche geschossenen Straßenflucht. Demolierte Autos, zerstörte Lokalitäten, Sirenengeheul. Waffen, überall Waffen. Teilweise in den Händen von Jugendlichen. Zu sehen ist die gelangweilte Routine des Schießens, Tötens, der Automatismus des Hassens. Eine Leiche wird ins Bild gerückt wie eine weggeworfene Zigarettenschachtel.

Kein besserwisserischer Reporter ist zu hören. Brutal authentisch. Und deswegen untypisch für Aernout Mik. Denn alle anderen Arbeiten seiner „Shifting Shifting“ betitelten Ausstellung sind Videos, die mit Laienschauspielern gedreht wurden. In „Training Ground“ etwa ist die Polizei auf einem LKW-Parkplatz bei der fingierten Einübung des Gesetzesvollzugs zu sehen: Asiaten und Afrikaner werden abgetastet, durchsucht, befragt. Menschenschmuggel? Die anfangs routinierten Beamten wirken zunehmend verzweifelt, epileptische Anfälle durchzucken ihre Körper. Die Kontrollmacht implodiert, die Flüchtlinge laufen mit Holzgewehren herum. Wer bewacht hier wen? Eine Welt aus den Fugen. Wie in „Raw Footage“: Die katastrophisch sich verdichtende Krise wird als Realität behauptet.

Aernout Mik zeigt das Verhalten von Menschen in Gruppen und öffnet Assoziationsräume: Masse und Macht, Gesellschaft und Individuum. Ästhetisch wird mit Verfremdungseffekten gearbeitet. In den Videos gibt es nichts Filmisch-Narratives: keine lineare Handlung, keine Dialoge, nicht mal Ton; nur die unspektakuläre Optik ziellos herumirrender Kameras.

Die Videos laufen als Loops, so dass auch eine Unterscheidung von Anfang und Ende nur schwer möglich ist. Ohne erklärenden Kommentar und konkrete Verortung fehlt auch der Sinn gebende Kontext für die Gewalt, das Chaos. Sowohl in „Training Ground“ wie in „Raw Footage“. Die sozialen Regeln und individuellen Motive der Handelnden bleiben undurchschaubar, wirken fremd, unheimlich, deutungsoffen. So entsteht eine beunruhigende Bilderrealität, die den Verstand locken soll, die immer repressiven Situationen durch genaues Beobachten zu dechiffrieren, die unausgesprochenen Konventionen zu hinterfragen.

Aernout Miks Thema ist die fragile Konstruktion der condition humaine. Aus dem globalisierten, in Hyperaktivität gelähmten Kapitalismus sieht er eine überreife, diffuse Angst erwachsen. Sie gebiert einen Sicherheitswahn, der Gewalt als Mittel zur Aufrechterhaltung des Bestehenden akzeptabel macht: etwa das Einüben der Abwehr von „Asylanten“ in den europäischen Wohlstandsgesellschaften, um den angeblich drohenden Kollaps des Vertrauten zu verhindern. Das Einrichten im Ausnahmezustand, dem eigentlich vorgebeugt werden sollte.

Aernout Mik übersetzt diese gesellschaftlichen Psychosen in metaphorische Szenen und projiziert diese in begehbare Rauminstallationen. Der Kunstverein Hannover ist auf verschlungenen, extra eingezogenen Pfaden zu durchwandern, schmerzhaft weiß getüncht und mit kleinen Sackgassen – Rückzugs-, Flucht-, Sicherheitsorte des Nachdenkens. Wer übt warum welche Macht aus und wie wirkt sich das auf den Einzelnen aus?

Kunstverein Hannover, bis 3. 2. 2008