Digitaler Heuhaufen

RECHERCHE Crowdsourcing-Plattformen nutzen soziale Netzwerke, um Nachrichtenquellen aus Krisengebieten zu überprüfen

VON RALF REBMANN

Als im August 2013 Giftgasraketen über der syrischen Stadt Ghouta niedergingen, waren kaum noch Journalisten im Land. Es hat lange gedauert, bis gesicherte Informationen an die Presse gelangten. Untersuchungen wurden eingeleitet, Indizien gesammelt und veröffentlicht. Sie stammen von Regierungen, Oppositionsgruppen, Geheimdiensten und NGOs. Und oftmals widersprechen sie sich.

Der Giftgasanschlag in Syrien ist symptomatisch für die Katastrophen der vergangenen Jahre und Monate. Unabhängige Journalistinnen und Journalisten können in den aktuellen Konfliktgebieten nur schwer oder unter Lebensgefahr recherchieren. Gleiches zeigt sich immer wieder bei den Kämpfen in der Ukraine, auf der Krim oder beim Flugzeugabsturz der MH 17. Die akribische Analyse von Videos und Fotos auf YouTube, Twitter und Facebook ist deshalb ein wichtiger Teil der investigativen Recherche geworden.

Ein prominenter Vertreter dieser Methode ist der Blogger Eliot Higgins. Auf seiner Website bellingcat.com suchen er und ein Team von Freiwilligen nach der Nadel im digitalen Heuhaufen. Im Falle des Fluges MH17 sind das beispielsweise Fotos, die von Soldaten und Kämpfern in sozialen Netzwerken gepostet werden. Mithilfe dieser Informationen hat Higgins rekonstruiert, dass am Tag des Abschusses eine mobile Raketenrampe der russischen Armee in der Nähe der Absturzstelle war – und dass beim Rücktransport eine Rakete fehlte. „Videos und Fotos schweben nicht einfach so im Internet“, sagt Higgins. „Man muss die Netzwerke finden, in denen sich auftauchen.“ Doch wie kann eine solche Auswertung aussehen? Malachy Browne ist Redakteur bei Storyful, einer Nachrichtenagentur, die sich auf die Überprüfung von Social Media Content spezialisiert hat. Seiner Meinung nach müssen vier Fragen beantwortet werden, um Videos oder Fotos zu verifizieren: Ist das Material authentisch? Wann und wo wurde es erstellt? Wer hat es veröffentlicht?

Browne verdeutlicht dies am Beispiel eines YouTube-Videos, das die Terroranschläge beim Boston-Marathon im Jahr 2013 zeigt. Zunächst galt es herauszufinden, ob das Video älter ist, als behauptet. Er sucht nach Schlagworten und verifiziert das Hochladedatum des Videos. Um Fotos zu untersuchen nutzt er den Dienst TinEye.

Durch weitere Twitter-Fotos vom Marathon, die teilweise dieselben Personen wie im Video zeigten, konnte Browne den Ort und die Zeit der Detonation bestätigen. Dienste wie Google Earth und Google Maps sind hilfreich, um charakteristische Gebäude, Brücken oder Funkmasten zur Ortsbestimmung heranzuziehen. Anschließend durchsuchte Browne weitere soziale Netzwerke nach dem Profilnamen der Frau, die die Videos hochgeladen hatte. Er fand und kontaktierte sie, um das Video zu verifizieren.

Nicht immer ist die Recherche im Netz jedoch so einfach wie in diesem Fall. Je nach Szenario kann die Auswahl der Werkzeuge variieren: Wetterdaten, Satellitenfotos oder Meta-Informationen der Dateien können ebenfalls wichtige Indizien liefern. Zusätzlich bieten Plattformen wie checkdesk.org weitere Möglichkeiten, Hinweise online und im Kollektiv zu überprüfen. Es sind im Grunde klassische Recherchemethoden, die hier mit Hilfsmitteln aus dem Internet kombiniert werden.

Ein Überblick verschiedener Ansätze liefert das „Verification Handbook“ das vom European Journalism Center im Jahr 2014 veröffentlicht wurde. Der Grundsatz lautet: „Gehe davon aus, dass es nicht stimmt. Vor allem wenn Nutzerprofile erst vor Kurzem erstellt wurden oder diese nicht zweifelsfrei bestätigt werden können.“

Informationen aus sozialen Netzwerken bleiben in manchen Fällen – und dazu gehört auch der Krieg in Syrien – die einzige Nachrichtenquelle. Die Herausforderung besteht heutzutage also nicht mehr darin, an diese Informationen zu gelangen, vielmehr besteht sie darin, diese Informationen zu kanalisieren und zu überprüfen.