: Gestorben wird im Heim
Das Hamburger Sozialgericht zwingt einen todkranken Patienten, gegen seinen Willen im Heim zu leben. Trotz Pflegemängeln und Vernachlässigung sei das zumutbar. Das zuständige Sozialamt will die Kosten für eine ambulante Pflege nicht tragen
Die Bundesregierung hat im Januar 2007 die Menschenrechtskonvention der UNO für Behinderte unterzeichnet. Darin heißt es in Artikel 19 unter der Überschrift „Unabhängiges Leben in der Gemeinschaft“: „Die Unterzeichnerstaaten erkennen an, dass Menschen mit Behinderungen das gleiche Recht haben, in der Gemeinschaft zu leben. Das umfasst insbesondere: Menschen mit Behinderungen haben die Gelegenheit, ihren Wohnort und wo und mit wem sie leben wollen genauso frei zu entscheiden wie andere. Sie sind sind nicht verpflichtet, in besonderen Einrichtungen zu leben“. Ein Recht auf Selbstbestimmung wird auch in der aktuellen politischen Debatte über Patientenverfügungen stets betont. Gemeint ist damit aber stets das Recht eines Patienten, auf medizinische Versorgung zu verzichten. „Es muss auch umgekehrt möglich sein,“, sagt Anwalt Tolmein: „Ein Patient muss das Recht auf optimale Versorgung haben.“ EE
VON ELKE SPANNER
Gegen seinen ausdrücklichen Wunsch muss Hans-Jürgen Leonhard sein Leben im Heim beenden. Das Hamburger Sozialgericht hat gestern die Klage des schwerkranken 67-Jährigen abgewiesen, der für seine letzten Monate in eine eigene Wohnung ziehen will (taz berichtete). Das Leben im Heim sei ihm zumutbar, befand das Gericht – und wies alle Hinweise von Leonhards Tochter auf Pflegemängel, medizinische Risiken und die Depressionen ihres Vaters zurück. Im Ergebnis bedeutet diese Argumentation laut Leonhards Anwalt Oliver Tolmein, dass jede Pflege als zumutbar gilt, die nicht unmittelbar lebensgefährdend ist.
Leonhard leidet unter Amyotropher Lateralsklerose (ALS). Die Nervenkrankheit schreitet schleichend voran, bis sie das gesamte Nervensystem lähmt. Der 67-Jährige kann sich schon nicht mehr selbst bewegen. Auch sprechen kann er nicht mehr. Er liegt im Bett, angeschlossen an ein Beatmungsgerät.
Als er vor vier Jahren die Diagnose ALS bekam, riet ihm seine Krankenkasse, in ein Pflegeheim zu ziehen. Nur dort könne er angemessen betreut werden. Diese Information ist falsch. „Standard ist, dass ALS-Patienten ambulant gepflegt werden, 24 Stunden am Tag“, sagt Tolmein. Das aber wusste Leonhard damals nicht. Er folgte dem Rat seiner Kasse und zog ins Heim. Das erwies sich als schwerwiegender Fehler: Er fühlt sich schlecht gepflegt und psychosozial vernachlässigt – und hat keine Chance, aus dem Heim wieder herauszukommen. Seine letzte Chance, die Klage vor Gericht, ist gestern geplatzt.
In dem kleinen Raum, der nun sein Zuhause ist, liegt Leonhard fast den ganzen Tag allein herum. Die Pflegekräfte kommen nur zur Basisversorgung. Sie würden nicht einmal versuchen, mit ihm zu kommunizieren, sagte seine Tochter gestern vor Gericht: Da ihr Vater nicht mehr sprechen kann, sei die Kommunikation den Pflegekräften zu aufwendig. „Mein Vater vereinsamt“, sagte sie. Deshalb sei sein sehnlichster Wunsch, in einer eigenen Wohnung zu leben, mit einer Pflegekraft, die auf seine Bedürfnisse eingehen kann.
Das aber kostet Geld, und darin liegt das Problem. Das zuständige Sozialamt Dithmarschen will die Mehrkosten für die ambulante Pflege nicht tragen. Denn es gilt im Sozialhilferecht zwar der Grundsatz, dass ambulante Leistungen vor stationären Vorrang haben. Das gilt aber nicht, wenn die ambulante Pflege mit „unverhältnismäßigen Mehrkosten“, der Aufenthalt im Heim hingegen „zumutbar ist“.
Das Sozialgericht findet die Lebenssituation von Leonhard zumutbar. Die Depressionen, die er habe, könnten im Heim mit Medikamenten behandelt werden. Zwar glaubte das Gericht der Tochter, dass es mehrfach zu Situationen kam, in denen eines der medizinischen Geräte nicht richtig funktionierte und ihr Vater mehr als zehn Minuten warten musste, bis ein Pfleger kam. Das Sauerstoffgerät aber würde piepsen, wenn Leonhard zu wenig Luft bekommt, deshalb bestünde nicht wirklich eine gesundheitliche Gefahr. „Pflegemängel sind erst mal nur Pflegemängel“, so das Gericht. „Die kann man abstellen.“
Kann man nicht, hält Anwalt Tolmein dagegen. Einmal habe Leonhard das Heim bereits gewechselt, verbessert habe sich nichts. Seine Tochter hat inzwischen 28 Gespräche dokumentiert, die sie mit Pflegern, der Heimleitung und Heimaufsicht geführt hat. Ohne spürbare Verbesserungen. „Die Mängel haben strukturelle Gründe“, hielt Tolmein dem Gericht denn auch vor. „Die gibt es in unterschiedlichen Abstufungen überall.“
Der Rechtsanwalt hat dem Gericht sogar das Gutachten eines renommierten Mediziners der Berliner Charité vorgelegt, der die Pflege von Leonhard begutachtet hat. Der Leiter der dortigen ALS-Ambulanz, Thomas Meyer, kam zu dem klaren Ergebnis, dass Leonhard raus muss aus dem Heim: „Die Versorgung des Klägers in einer stationären Pflegeeinrichtung erscheint aufgrund des Schweregrades der ALS, der vollständigen Beatmungspflichtigkeit, des kompletten Autonomieverlustes und der eingeschränkten Steuerungsoptionen elektronischer Kommunikationssysteme nicht zumutbar.“ Es sei nicht ausgeschlossen, dass er wegen der psychischen Belastung im Heim schneller sterben werde als zu Hause.
Das Gericht regte nun an, dass der Patient in ein anderes Pflegeheim umziehen soll. „Das könnte man ja mal ausprobieren“. Die Lebenserwartung von Leonhard beträgt voraussichtlich nur noch Monate.