„Sie sind fluid, geschmeidig“

IM DATENFLOW Analoge oder digitale Fotografie, das ist mehr als eine Frage der Technik. Der Fotograf und Theoretiker Andreas Müller-Pohle, der gerade in der Photo-Edition Berlin ausstellt, spricht über neue Bildwelten

■ Fotograf und Medienkünstler, geb. 1951. Studium der Wirtschafts- und Kommunikationswissenschaften. Müller-Pohle arbeitet auch als Herausgeber, etwa der Zeitschrift European Photography.

INTERVIEW RONALD BERG

taz: Herr Müller-Pohle, Sie sind Künstler, Fotograf, Theoretiker, Herausgeber und Verleger, Sie unterrichten und werden regelmäßig zu internationalen Veranstaltungen eingeladen. Wie bringt man das unter einen Hut?

Andreas Müller-Pohle: Ich sehe das als eine Einheit. Im Mittelpunkt steht die Kunst, und alles andere leitet sich daraus ab.

Haben Sie als Künstler die meisten Freiheiten?

Ja, darum wird man Künstler. Man kann morgens ausschlafen, sich tolle Sachen ausdenken und die dann machen. „Künstlerische Freiheit“ heißt doch, seinen Interessen und seiner Neugierde nachgehen zu können. Das ist nicht dasselbe, wie einen Markt oder einen Stil zu bedienen.

Von Ihnen stammt der Begriff des „one-idea artist“. Wie ist der gemeint?

Damit meine ich Künstler, die irgendwann in ihrem Leben eine erfolgreiche Idee hatten und die dann nichts anderes tun, als diese Idee in immer weiteren Variationen zu wiederholen. Für den Kunstmarkt ist das sicher ein gutes Rezept, aber ich finde es ziemlich langweilig.

Ihr Ansatz war von Anfang an medienkritisch. Warum ging es Ihnen immer darum, die Grenzen des Mediums Fotografie auszuloten?

Dieser medienkritische Ansatz in der Fotografie kam zunächst aus der Konzeptkunst und hat in den späten 1970er Jahren eine zweite Strömung hervorgebracht, die ich „Visualismus“ genannt habe. Das war ein ästhetisches Programm, das an das „Neue Sehen“ der Vorkriegsavantgarde anknüpfte, ein Programm gegen die damals etwas naive Vorstellung von Dokumentarfotografie, dass der Fotoapparat – gewissermaßen qua Technik – ein objektives Bild der Wirklichkeit liefern würde. Ich habe diesen Ansatz bis etwa Mitte der 90er Jahre verfolgt und mich dann den digitalen Codes zugewandt …

Wie sehen die aus?

Digitale Bilder unterscheiden sich von analogen vor allem durch zwei Eigenschaften: Sie sind fluid, geschmeidig, in ihrer Struktur leicht zu verändern. Und sie basieren auf Texten, auf Programmcodes. Ich sehe darin eine neue Gattung von Literatur. Der Scriptor classicus von heute, das ist der Programmierer digitaler Codes. Und wir sind die Analphabeten, die diese Codes zwar nutzen, wenn wir mit der Digitalkamera fotografieren oder mit dem iPhone spielen, sie aber nicht verstehen. Also habe ich das erste Foto der Welt genommen, den berühmten „Blick aus dem Arbeitszimmer“ von Nicéphore Niépce von 1826, und als digitalen alphanumerischen Code dargestellt, verteilt auf acht quadratische Tafeln, insgesamt 15 Millionen Zeichen. Das ist dann wie ein Blick ins offene Herz der digitalen Fotografie. Wir können den Text, den wir dort sehen, nicht entziffern, aber wir ahnen vielleicht etwas von der Macht dieser neuen Literatur. Unser Leben heute, unser Verstehen und Verhalten in der Welt wird fast vollständig von digitalen Codes beherrscht. Die Programmierer des iPhone sind mächtiger als Günter Grass.

Warum reden wir immer noch von Fotografie, obwohl das digitale Fotografieren eigentlich ein ganz anderes Medium ist?

Das stimmt. Wir sagen noch immer „Fotografie“, meinen aber eigentlich etwas, was man vielleicht allgemeiner „digitales Bildermachen“ nennen sollte, denn die griechische Silbe graphein, nämlich „ritzen“, „schreiben“, stimmt ja nicht mehr. Wenn wir auf den Auslöser drücken, dann erzeugen wir elektrische Impulse, die sich auf magnetische Flächen auflegen, von „ritzen“ also keine Spur. Das digitale Bild ist flüssig, nicht starr.

In den letzten Nummern der Zeitschrift European Photography, die Sie mit herausgeben, kommen die Konsequenzen der digitalen Bilderproduktion in den Blickwinkel: Netzfotografie, Google Street View und anderes. Was hat die Zeitschrift dazu bewegt?

■ Die Ausstellung von Andreas Müller-Pohle in der Photo Edition Berlin beginnt mit schlierenartigen Bildern aus den 90er Jahren, kameralos entstandenen „Zyklogrammen“, die am Ende der analogen Ära der Fotografie noch einmal deren chemische Emulsion selbst in Szene setzen. Bis auf einen 23-minütigen Videofilm über den japanischen Erotomanen Nobuyoshi Araki aus dem Jahr 1996 sind alle anderen Arbeiten dann digital. Sie beruhen also auf einem dem Bilde zugrunde liegenden digitalen Code. Die „Digitalen Partituren“ zeigen überhaupt nichts anderes als diesen alphanumerisch sichtbar gemachten Code. Zugrunde liegt diesen Textbildern ein Scan von Nicéphore Niépce frühestem Foto der Geschichte von 1826. „Atomic Laughter“ zeigt, wie der amerikanische Präsident Truman die Bekanntgabe des Atombombenabwurfs auf Hiroshima einleitet, nämlich mit einem Lachen. Der historische Filmschnipsel thematisiert – wiederum an einem frühen Beispiel – die decouvrierende Macht der Bilder im Medienzeitalter.

■ Als jüngste Arbeiten sind die Aufnahmen vom Lauf der Donau und den Gewässern Hongkongs zu sehen, die das durch die Medienkanäle Fließende der heutigen Bilder metaphorisch illustrieren. Die kleine Werkschau zeigt ein Konzentrat von Müller-Pohles Arbeitsweise. Immer geht es darum, auf die unsichtbare Rück- und Kehrseite des visuellen Bilderkosmos zu gelangen. (r.b.)

■ Photo Edition Berlin, Gunther Dietrich, Ystader Str. 14, 10437 Berlin, bis 12. Februar 2012, Mi. 14–18, Sa. 12–16 Uhr, www.photo-edition-berlin.com

Es haben sich völlig neue Bilderwelten aufgetan, die nicht mehr – oder noch nicht – in den Galerien und Museen zu finden sind, sondern im Netz. Immer mehr Fotografen und Künstler und immer mehr Nichtfotografen und Nichtkünstler füttern ihre Bilder in Netzcommunitys hinein, Bilder mit oft erstaunlichen Konzepten und in wunderbarer Qualität. Wir haben dem eine ganze Ausgabe gewidmet und Projekte zum Thema Selbstporträt gesammelt, die nur im Netz zu finden sind, genauer gesagt bei Flickr. Was wir bei der Netzfotografie erleben, ist eine exzessiv dialogische Motivation. Netzfotografie ist vor allem soziale Aktivität. Wer seine Bilder auf eine der Netzplattformen stellt, tut dies, um weltweit Feedback und Dialoge anzustoßen und von anderen bewertet zu werden.

Aber wenn Handyfotos aus Ägypten oder Syrien per Internet sofort die Weltöffentlichkeit erreichen, nimmt man dann nicht das Bild einfach für die Wirklichkeit?

Solange die Bilder eine gewisse Plausibilität aufweisen und in einem glaubwürdigen Medium erscheinen, werden sie wohl weiterhin als authentische Zeugnisse angesehen. Inzwischen wissen wir zwar, dass es in der digitalen Bilderwelt sinnlos geworden ist, mit Kategorien wie wahr und unwahr zu argumentieren, aber das fotografische Glaubensbekenntnis ist zäh. Es ist einfach zu schön, Bildern zu glauben.

Das visuelle Regime des „Sehens und Gesehenwerdens“ ist ja ein Regime der Macht. Im Grunde sind wir alle längst überall und immer im Visier von Kameras, ob im Stadtraum ob vom Satelliten aus oder beim privaten Chat. Denken Sie, die Fotohandybesitzer können eine Art von Gegenmacht zum visuellen Regime von Staaten oder Privatunternehmen darstellen?

Das ist auf jeden Fall eine große Hoffnung. Die Beispiele aus dem arabischen Raum haben wir ja noch deutlich vor Augen. Eine Diskussion über Bilder beinhaltet aber heute zwangsläufig auch eine Diskussion über das Internet, denn das ist die neue Heimat aller Bilder. Deshalb ist der Kampf für die Freiheit des Netzes der vielleicht wichtigste Kampf überhaupt. Wer die Kontrolle über das Netz hat, hat die Kontrolle über die Bilder. Und wer die Kontrolle über die Bilder hat, hat die Kontrolle über die Gesellschaft. Eine Initiative wie www.witness.org hat das schon in den frühen 90er Jahren zum Programm ihres Handelns gemacht. In Regionen, in die kein Reporter kommt, wo Soldaten Zivilisten abschlachten, wo Ölkonzerne ganze Landschaften verwüsten, ist die effektivste Gegenwaffe das Fotohandy.