Ein Querschnitt der Gesellschaft

DOKU Ein Apotheker, ein Metzger, ein Kaufmann, ein Kriminalbeamter: „183 Tage. Der Auschwitz-Prozess“ versucht sich über vier Angeklagte beim Prozess in Frankfurt der Schuld und dem Schrecken zu nähern

VON ULRICH GUTMAIR

Wer in Auschwitz bei der ersten Selektion zum Arbeiten bestimmt wurde, bekam eine Häftlingsnummer, die auf den Arm tätowiert wurde. In den ersten Minuten von Janusch Kozminskis Dokumentarfilm „183 Tage. Der Auschwitz-Prozess“ sieht man eine junge Frau, aus drei Perspektiven für die Häftlingskartei fotografiert. Einmal im Profil von rechts, einmal frontal und einmal im Halbprofil von links. Sie trägt die gestreifte Jacke. Die langen schwarzen Haare sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Auf dem linken Foto steht: „Jude, 7537, K.L. Auschwitz.“ Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1942.

In der nächsten Einstellung sehen wir dieselbe Frau, einige Jahrzehnte älter. Sie hält den Ärmel ihrer weißen Bluse hoch, zeigt ihre Nummer, 7537, und sagt: „Was ist das für eine Nummer? Da hab ich gesagt, das ist eure Schuld, dann fragt nicht.“ Der Interviewer will wissen, wie die Angesprochenen auf ihren Vorwurf reagiert hätten. „Damit hab ich nichts zu tun!“, sei die übliche Antwort gewesen, sagt sie. Was Sie in einem solchen Moment gefühlt habe? „Alle hattet ihr was damit zu tun. Wenn ein Volk was nicht will, dann passiert’s nicht.“

Die Dame in der weißen Bluse und der Tätowierung auf dem Arm heißt Janina Lieberman. Sie ist die Mutter des Filmemachers und Produzenten Janusch Kozminski.

Ehrgeiziges Projekt

„183 Tage. Der Auschwitz-Prozess“ ist ein ehrgeiziges Projekt. Es versucht, am Beispiel von vier Angeklagten zu erklären, was diese Männer taten und was sie dachten. Über 183 Verhandlungstage erstreckte sich dieses größte Strafverfahren der deutschen Nachkriegsgeschichte, das sich der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer als Prozess der Selbstaufklärung einer Gesellschaft gedacht hatte. „Der Prozess soll weniger in die Vergangenheit schauen, sondern in die Zukunft weisen“, sagte Bauer. Das Verfahren begann im Dezember 1963 und endete im Sommer 1965.

Der Film ist 174 Minuten lang. In seinem ersten Drittel versucht er chronologisch die stetige Eskalation der antijüdischen Maßnahmen des Nazi-Regimes nachzuzeichnen, und damit den Weg nach Auschwitz aufzuzeigen.

Kozminski belässt es hier aber nicht bei der Didaktik, er tut etwas, das erst einmal verblüfft: In diesem ersten Teil des Films, der aus vielen Fotos, kurzen Filmausschnitten und Texttafeln besteht, beginnt plötzlich eine Stimme zu singen. Es ist der bayrische Liedermacher Hans Söllner, der zu einer sieben Minuten langen Ballade anhebt, in der es unter anderem heißt: „I woas ned wie lang das dauert, bis ma schlafa konn, in Sicherheit und ohne Angst und Schmerz.“

Söllners Lied stellt einen so emotionalen wie gegenwärtigen Bezug zu den Geschehnissen her, die der Film in knappen Worten andeutet, auch wenn er dabei nicht den üblichen Problemen von Popsongs über die Endlösung entgeht: Müssen Schulnoten und die Asphaltierung der Landschaft in einem Song über Auschwitz und Buchenwald vorkommen?

Der Hauptteil des Films, für dessen Produktion Kozminski viele Spenden sammelte und Artur Brauner als Koproduzenten gewann, widmet sich vier Angeklagten des ersten Frankfurter Auschwitzprozesses. Ein Querschnitt der Gesellschaft sei hier zu sehen: „Ein Handelskaufmann, ein Dr. phil. Apotheker, ein Metzger, ein Kriminalbeamter.“ Es handelt sich um Robert Karl Mulka, Victor Capesius, Oswald Kaduk und Wilhelm Boger.

Letzterer tritt am aggressivsten in Erscheinung. Boger nannten die Häftlinge „den Teufel von Auschwitz“. Er hatte ein Folterinstrument erfunden, das nach ihm Bogerschaukel benannt wurde, und beteiligte sich an Erschießungen. Oswald Kaduk war gefürchteter Rapportführer, der Leute mit bloßen Händen totschlug. Victor Capesius war an Selektionen auf der Rampe beteiligt, überwachte die Anwendung des Zyklon B in den Gaskammern und bereicherte sich an den Hinterlassenschaften der Toten. Robert Mulka war als Adjutant des Lagerkommandanten Höß an der Spitze für den reibungslosen Ablauf der Maschinerie von Ausbeutung und Vernichtung zuständig.

Im Kern stützt sich der Film auf die Tonbandaufnahmen, die das Gericht als Gedächtnisstütze hatte anfertigen lassen. Inzwischen sind sie archiviert und können im Internet abgerufen werden. „183 Tage. Der Auschwitz-Prozess“ kombiniert diese Tonaufnahmen mit zeitgenössischen Filmaufnahmen und Fotografien. Es ist heute noch beklemmend zu hören, wenn eine Zeugin, die sich die Einlassungen eines der Angeklagten anhören muss, sagt: „Schrecklich. Schrecklich, das ist wie früher in Auschwitz.“ 211 Überlebende sagten in Frankfurt am Main aus.

Der Prozess stieß damals auf großes Interesse der Öffentlichkeit. Obwohl die Taten der Angeklagten über den Zeitraum von eineinhalb Jahren hinweg Gegenstand ständiger Berichterstattung sind, schadet das nicht unbedingt ihrem Ansehen. Als der Apotheker Capesius nach einigen Jahren Haft entlassen wird, besucht er noch am selben Abend in seiner Heimatstadt ein Konzert und wird dort mit Beifall empfangen.

Im Film sind aber auch einige junge Leute zu sehen, die vom Fernsehen befragt wurden, nachdem sie den Prozess besucht hatten. Ein junger Mann, akkurat gescheitelt, sagt: „Es ist mir aufgefallen, dass die Angeklagten sich alle für unschuldig halten, sie wüssten von nichts. Sie waren nicht dabei, sie hätten’s nicht gesehen. Ich frag mich: Wer denn sonst?“ In dieser Frage sind sich die Jungen mit den Überlebenden einig.

■ „183 Tage. Der Auschwitz-Prozess“ ist am Sonntag um 12.30 Uhr in einer Matinee-Vorstellung im fsk-Kino am Oranienplatz zu sehen.