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Archiv-Artikel

Der Polizeistaat kommt

TÜRKEI Polizei darf jetzt auf Demonstranten schießen und sie grundlos festhalten, Regierung darf Internet sperren

Das Gesetz ist eine Konsequenz aus den Istanbuler Gezi-Protesten 2013

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Das türkische Parlament hat in der Nacht von Donnerstag auf Freitag zwei Gesetze verabschiedet, die das Land nach Auffassung der Opposition einem autoritären Polizeistaat einen großen Schritt näher bringen.

Nach mehrwöchigen heftigen, teils mit den Fäusten ausgetragenen Auseinandersetzungen im Parlament wurde in den frühen Morgenstunden des Freitag zunächst ein sogenanntes neues Sicherheitsgesetz verabschiedet. Die jetzt verabschiedete Neuregelung erweitert die Befugnisse der Polizei bei Demonstrationen so erheblich, dass etliche Abgeordnete von der de facto Abschaffung des Demonstrationsrechts sprachen. Zukünftig darf die Polizei bei Demonstrationen scharf schießen, jedwede Vermummung insbesondere bei Tränengaseinsatz ist illegal, und festgenommene Demonstranten können von der Polizei 48 Stunden festgehalten werden, ohne Kontakt mit einem Anwalt und ohne einem Haftrichter vorgeführt zu werden. Eine ähnliche Regelung in der Zeit nach dem Militärputsch 1980 hatte dazu geführt, dass während der Polizeihaft brutal gefoltert wurde.

Die bisher dem Militär zugeordnete Gendarmerie wird zukünftig dem Innenministerium unterstellt und kann nun ebenfalls gegen Demonstranten eingesetzt werden. Die von der Regierung eingesetzten Provinzgouverneure dürfen zukünftig eigenmächtig den Notstand in ihrer Provinz ausrufen und so jede öffentliche Versammlung unterbinden.

Das Gesetz ist eine Konsequenz aus den Istanbuler Gezi-Protesten vom Sommer 2013, zielt aber auch auf die Unterdrückung von Demonstrationen in den kurdischen Gebieten, wo es zuletzt im Oktober letzten Jahres anlässlich der Kämpfe im syrischen Kobani zu heftigen Auseinandersetzungen mit Todesopfern gekommen war. Um die Gespräche mit der kurdischen PKK-Guerilla nicht über Gebühr zu belasten, hatte die Regierung die Verabschiedung des Gesetzes Ende Februar verschoben und es erneut in den zuständigen Ausschuss des Parlaments überwiesen. Nachdem der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan aber nun zum kurdischen Neujahrsfest Newroz am 21. März die PKK aufgefordert hat, den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat einzustellen, wurde das Gesetz nun ohne weitere Änderungen verabschiedet.

Das zweite Freitagfrüh verabschiedete Gesetz betrifft die Kontrolle des Internets. Seit Fernsehen und Printmedien weitgehend von der Regierung kontrolliert werden, weichen immer mehr Leute in der Türkei auf das Internet aus, um sich informieren. Das hat bereits zu etlichen Versuchen der Regierung geführt, auch die Kontrolle über das Internet zu bekommen, was aber bislang vor dem obersten türkischen Gericht gescheitert war. Das Parlament hat nun entschieden, dass die Regierung ermächtigt wird, Webseiten sofort und ohne richterlichen Beschluss eigenmächtig zu sperren. Eine juristische Überprüfung soll erst später erfolgen.

Beide Gesetze werden von der Opposition sicher vor das Verfassungsgericht gebracht werden. Allerdings ist die Erfolgsaussicht einer Klage seit einigen Wochen wesentlich geringer als zuvor, weil der kritische Präsident des Gerichts in den Ruhestand gegangen ist und durch einen Anhänger des Premierministers Erdogan ersetzt wurde.