: Souvenirs aus 2007Syrisches Blog
Einige Blogs, die neue Wichtigkeit der Buchbestenlisten, Konfetti auf der Theaterbühne, der Kunstsommer, amerikanische Fernsehserien auf DVD, eine Holzeisenbahn und das neue Tocotronic-Album. Ein Jahresrückblick aus der taz-Kulturredaktion
Riverbend. Ich lese keine Blogs. Denn ich glaube, dazu fehlt mir die Zeit. Wahrscheinlich bin ich einfach borniert. Immerhin mache ich nun seit einem Jahr schon eine Ausnahme. „riverbend“, eine Informatikerin aus Bagdad, die inzwischen nach Syrien emigriert ist.
Es sind die Details, die berühren und den täglichen Kriegsnachrichten einen Horizont geben, der so etwas wie Alltag unter – für uns wie für die Betroffenen – unvorstellbaren Bedingungen anklingen lässt. Etwa, dass man den Opfern von Anschlägen, wenn möglich, ihr Autonummernschild auf den hektisch aufgeschütteten Grabhügel steckt. Vielleicht kommt mal jemand vorbei, der sie gekannt hat. Oder die Frage, ob es möglich sein wird, wenigstens ein Fotoalbum mit ins Exil zu nehmen. Gesammelte Briefe? Immerhin wird man voraussichtlich nie zurückkommen. Oder riverbends Freude über Syrien. Syrien? Ein Eldorado für selbstbewusste Frauen? Auf die Idee wäre ich bislang nicht gekommen. Riverbend klagt nie. Ihr Englisch ist elegant und kühl, ihr Witz leise und scharf. Sie schreibt nicht oft, manchmal sind die Pausen so lang, dass man befürchtet, auch ihr sei etwas zugestoßen. Dafür verbrennen ihre Texte nicht einfach am fortlaufenden Tagesgeschehen. Sie sind Zeitdokumente.
INES KAPPERT
Kleiner Mäusefurz
Heidelbach, Ungerer, Thé Tjong-Khing. Die konservative Bildungselite klagt gerne über den Verfall der Werte nach 68. Doch jede Wette: Auch ihre Kinder kriegen gerne die Meisterwerke antiautoritärer Zeichner unter den Weihnachtsbaum gelegt, ohne dass dies der Papa immer merkt. Dieses Jahr erhielt ein eher wenig lieblicher Maler wie Nikolaus Heidelbach für sein großartiges Bilderbuch „Königin Gisela“ (Beltz & Gelberg) den Deutschen Jugendliteraturpreis. Von Künstlern wie Heidelbach können sich Erwachsene wie Kinder gleichermaßen angesprochen fühlen. Ältere haben Spaß an den versteckten Hippiecodes und der philosophischen Weite der Bilder, Dreijährige amüsieren sich köstlich über bemützte Erdmännchen, die das rundgesichtige Mädchen Gisela mit Fischen und Kokosnüssen bedienen müssen. Den darauf folgenden Aufstand überblättern sie schnell. Heidelbachs Mischung aus Konkretion und Abstraktion ist anregend, und das Werk des Preisträgers passt unter jeden Baum.
Ebenso wie Thé Tjong-Khings unter Palmen endende Verfolgungsjagd „Die Torte ist weg“ (Moritz Verlag). Tjong-Khing war dieses Jahr auch für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und hätte die Auszeichnung wie Heidelbach verdient. Selten hat ein Bilderbuch eine solche Rasanz und Varianz entwickelt. „Die Torte ist weg“ basiert auf einer Verkettung von Verfolgungsjagden, perspektivisch reizvoll gemalt, voller Tempo, Tier-Action und Humor. Und wie gesagt: kein deutscher Wald.
Aus dem sprangen dieses Jahr in der Verfilmung von Tomi Ungerers Klassiker „Die drei Räuber“ (Diogenes) ebendiese. Wer eine längere Fahrt vor sich hat, der oder die greife unbedingt zu der hervorragenden Hörspiel-CD: „Ich kotz auf Hotzenplotz, das ist ein kleiner Mäusefurz“. ANDREAS FANIZADEH
Feinste Reize
Melian, Kluge, Proust. „I am for a life around the corner / That takes you by surprise / That comes leaves all you need / And more besides“ – auf Michaela Melians im Herbst erschienenen Album „Los Angeles“ kommen acht Tracks ohne Text aus. Den neunten, „Manifesto“, hat sich Melian von Roxy Music geborgt. Großartig, wie ihre coole, tiefe Stimme die Leidenschaft des Textes zugleich kühlt und befeuert.
2007 ist das Jahr Alexander Kluges: Im Februar wurde er 75, die Biennale von Venedig feierte ihn im September, und Zweitausendeins hat eine 16-teilige DVD-Box herausgebracht, die eine Wunder- und Schatzkammer ist. Allein für einen Filmtitel wie „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ will man Kluge auf immer dankbar sein – erst recht, wenn man gesehen hat, wie nonchalant Hannelore Hoger als Zirkusdirektorin Leni Peickert einen Elefanten kaufen geht. Und wie war das gleich mit den Gefühlen? „Man sagt von ihnen, dass sie brennen, nicht dass sie kühlen.“ („Die Macht der Gefühle“, 1983)
Und ein all time favourite: 2007 war das Jahr, in dem ich nach gut zweieinhalb Jahren Lektüre beim letzten Satz von Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ anlangte. Wie sich im Finale die Lebenszeit des Icherzählers mit den vielen, vielen hundert Seiten des Romans und mit meiner eigenen Lebens- und Lesezeit mischt, das vergesse ich so schnell bestimmt nicht – und möchte es jedem ans Herz legen, der neben seiner Alltagszeit eine Parallelzeit voller Raffinement, dichter Beschreibung und feiner, feinster Reize durchleben will. CRISTINA NORD
Existenzblogging im Überfluss
Rainald Goetz, Klage. Viele gute Romane deutscher Sprache sind im vergangenen Jahr erschienen, erstaunlich viele sogar. Das eigentliche literarische Ereignis war aber etwas anderes, und es hatte mit dem Medium Buch nur bedingt zu tun: „Klage“, das neue Blog, das Rainald Goetz für die Vanity Fair schreibt.
Sich der Wirrheit der Eindrücke zu stellen und undiszipliniert Erfahrungen zu machen, um mit diesen dann äußerst diszipliniert zu argumentieren – so könnte man seit je das literarische Programm von Goetz umreißen (bei den meisten Autoren ist es ja andersherum). Und für dieses Projekt bildet das Blog, diese eigentümliche digitale Mischform aus Tagebuch und Tageszeitung, den passenden Ort. Es ist radikal privat und radikal öffentlich. So funktionierte auch schon „Abfall für alle“, Rainald Goetz’ Protoblog von 1998. Damals stand er damit noch ziemlich allein da, heute ist diese Kulturtechnik allgemein durchgesetzt – was gut zu Goetz passt. Wer an einer großem Chronik der Verschwendung arbeitet, schreibt besser aus dem Überfluss heraus. Was auch ein Überfluss sprachlicher Mittel ist. Ob es kreischende Abiturientinnen auf der Friedrichstraße sind oder die „Wallenstein“-Inszenierung ist: Jede Information bekommt ihre eigene Instantbegrifflichkeit. TOBIAS RAPP
Es ist ernst
Tocotronic, Anzüge, Schweigen. Ein Produkt-Quartett für 2007. Erst kamen Tocotronic und machten diabolische Handlungsvorschläge: Einfach abwinken, zu den Dingen gepflegt „Nein, danke!“ sagen, dazu ein wenig melancholisch blasiert aus der Wäsche schauen und sich einen haarfeinen Moustache stehen lassen (siehe Cover des Tonträgers „Kapitulation“ (Vertigo/ Universal). Man kündigte also seinen Job und kaufte sich einen Tweedanzug für Damen beim Dandy-Ausstatter „Herr von Eden“.
Im Anschluss besorgte man sich Tom Hodkinsons Buch „Die Kunst, frei zu sein – Handbuch für ein schönes Leben“ (Heyne). Immerhin, dachte man sich, empfehlen ja die glücklich prekären Schlüsselreizverwalter der Zentralen Intelligenzagentur diesen Ritter gegen die protestantische Ethik. Aber irgendwie blieb das Buch bis heute in seiner Schutzfolie stecken – vielleicht auch, weil die Zentralintelligenten bei ihrem „9 to 5-Festival“ allzu selbstgefällig nachts auf ihre Laptops einhackten und digitale Boheme spielten. Und jetzt? Schaut man eben die Mönchsdokumentation „Die große Stille“ von Philip Gröning auf DVD, einen Film, der sehr lange dauert und ergo therapeutisch portionierbar ist. Man sieht darin die Mönche eines Kartäuserklosters Holz hacken, einheizen, Kätzchen füttern, mit der Kapuze auf dem Kopf herumschlurfen, dünne Süppchen schlürfen, härene Gewänder nähen – und recht hartnäckig die Klappe halten. KIRSTEN RIESSELMANN
Große Gefühle, große Kunst
Ang Lee, Gefahr und Begierde. Kunst offenbart oft urplötzlich eine verborgene, bislang allenfalls erahnte Wahrheit: Auch im ansonsten pathosresistenten Jahr 2007 erfüllte sich glücklicherweise dieser immerwährende Traum jeder schöpferischen Fantasie. Ang Lee hieß der Gefühlszauberer, der das mit seinem Filmepos „Gefahr und Begierde“ vollbrachte.
Ende der Dreißigerjahre lässt sich die junge Wang Chia-Chih im japanisch besetzten China für eine Widerstandsgruppe als Lockvogel auf Herrn Yee ansetzen, später Geheimdienstchef der Kollaborationsregierung. Die Schöne und der Folterer, Mann und Frau beginnen einen exzessiven Lustkampf miteinander; wer wem verfällt, ist alsbald schwer zu unterscheiden. Niemals wird der Zuschauer das nach innen gerichtete Lächeln vergessen, das über Wangs Gesicht huscht, als sie nach der ersten brutalen Inbesitznahme durch Yee förmlich zerfetzt auf dem Bett liegt. Geheimnis, Verrat und Eros vermengen sich – bis das furiose Ende mit verstörender Wucht alle empfindsamen Seelen attackiert. Beider große Augen, als sie ihn flüsternd im entscheidenden Augenblick vor dem tödlichen Anschlag warnt; sein Schluchzen am Büroschreibtisch in der nächtlichen Minute ihres von ihm befohlenen Todes; die verstehend lächelnden Tränenblicke zwischen ihr und dem in sie verliebten Genossen kurz vor der Hinrichtung ihrer Widerstandsgruppe: Schönes und Schreckliches verwebt Ang Lee in kaum erträglicher Radikalität. Große Kunst offenbart Wahrheiten, denn sie handelt von großen Gefühlen.
ALEXANDER CAMMANN
Die Lage der Preisträger
Franck, Ford, Doctorow, Peltzer, Kleeberg, Glavinic, Müller-Lange. Langsam wäre es Zeit für ein Buchpreis-Abonnement! Man lässt sich einfach die Romane frei Haus liefern, die im Frühjahr den Preis der Leipziger Buchmesse und im Herbst den Deutschen Buchpreis bekommen haben (so wie Bildungsbürger in früheren Zeiten ihre Schiller- oder Goethe-Ausgaben). Viele Leser machen es eh schon so; zumindest der Herbstbuchpreis ist für Schriftsteller inzwischen eine feste Bank – der Buchpreis ist jedenfalls das 2007er-Thema, so wie Kehlmann das Thema des Jahres 2006 war. Und Julia Francks „Mittagsfrau“, die Preisträgerin dieser Saison, geht derzeit weg wie nix. Mit der Lektüre kann man dann die besinnlichen Tage gut bestreiten.
Für versierte Leser gibt es außerdem noch die Frage zu ventilieren, ob das denn nun tatsächlich der Roman dieses Herbstes ist. Ist zwar, klar!, im Grunde eine viel zu einfache Fragestellung, aber Spaß macht es schon, sich auszudenken, welches Buch man denn nun seinerseits mit diesem Etikett versehen würde. Amerikanophile Leser (aber die spielen beim Deutschen Buchpreis ja eigentlich gar nicht mit) schwören auf Richard Fords „Die Lage des Landes“, auch E. L. Doctorows „Der Marsch“ liegt da gut im Rennen. Menschen, die auch die Wörter Prekariat und Gentrification im Mund führen, fanden meiner Erfahrung nach Ulrich Peltzers „Teil der Lösung“ prima. Die Büchnerpreis-Jury sagt: Im Grunde irgendein Buch von Martin Mosebach – aber außerhalb des engeren Literaturzirkels habe ich keinen einzigen Menschen getroffen, der auch nur einen Roman dieses Autors freiwillig zu Ende gelesen hätte. Ich bleibe stattdessen standhaft dabei zu behaupten, dass Michael Kleebergs „Karlmann“ und Katja Lange-Müllers „Böse Schafe“ zu den wichtigen Romanen dieses Jahres erzählen. Und wer sich selbst gerne entlarvt sieht, hat viel von Thomas Glavinics sehr lustigem Roman „Das bin doch ich“ gehabt. DIRK KNIPPHALS
Besser als Seinfeld
Curb Your Enthusiasm. Die US-Amerikaner freuen sich 2007 über die sechste Staffel von „Curb Your Enthusiasm“ auf HBO. Das deutsche Fernsehen verpennt derweil auch dieses Jahr die großartige Serie um den Komiker Larry David. Er spielt darin sich selbst, also einen 60-jährigen Sitcom-Mogul aus Los Angeles, der sein Umfeld wahnsinnig macht. Am besten stellt man sich Larry David als Shiva vor, als göttliche Kraft der Zerstörung. Einmal soll er eine Todesanzeige für die verstorbene Tante seiner Frau aufgeben. Und am nächsten Tag steht wegen einer Unaufmerksamkeit statt „beloved aunt“ eben „beloved cunt“ in der Zeitung.
Alltag ist für Larry David die Summe sozialer Unglücke. Und wer kann sie kommen sehen, wenn sie sich stets aus den harmlosesten Kleinigkeiten entwickeln? David jedenfalls nicht, und so pflegt er seine Misanthropie und Fassungslosigkeit ob der Blödheit des Alltäglichen. „Curb Your Enthusiasm“ baut auf improvisierte Dialoge, gefilmt wird im Doku-Stil. Diese Serie schlägt, was die präzise Beobachtung des Gewöhnlichen angeht, „Seinfeld“ um Längen. Damit übertrifft Larry Shiva David also sich selbst. Denn er hatte damals einen Großteil der „Seinfeld“-Folgen geschrieben. JOANNA ITZEK
Bahn der Zukunft
Brio, E-Mail, Eisenbahn. Die Schweden sind deutscher als die Deutschen, die dafür geschätzt werden, sich noch nicht gänzlich chinesischem Giftmüll ergeben zu haben, der das globalisierte Kinderzimmer überflutet. Die alten Spielzeugeisenbahnen des schwedischen Herstellers Brio werden von Kindern und Eltern besonders geliebt, nur das neueste Modell – Brio Network – läuft hierzulande nicht so gut. Ein Designpraktikant im Hause Brio hat ein Update der guten alten Bahn entwickelt, die kurzerhand zur Dateneisenbahn umdefiniert wurde. Auf ihren blauen Waggons sind @-Zeichen zu sehen. Sie transportieren schöne bunte Kärtchen, die E-Mails darstellen sollen. Bringt der Zug solche Mails zu einem Terminal, dann können sie abgehört werden. Auch Viren gehören zum System, das sind nur giftig aussehende Männchen, die es einzufangen gilt. Das alles sieht schön bunt aus und macht Spaß. Waggons schieben muss man hier sogar selber – im Gegensatz zu manchen Traditionslokomotiven von Brio ist die Datenlok nicht batteriebetrieben.
Für viele deutsche Spielwarenverkäufer der neukonservativen Schule ist die neue Briobahn aber des Teufels. Wer mit solchen Bahnen spielt, werde zwangsläufig Amok laufen, hört man da allen Ernstes, die Industrien des Bösen griffen hier nach reinen Kinderseelen. Es soll nicht verschwiegen werden, dass die neue Bahn einen Designfehler hat: Die 8-bit-Sounds vieler Module stehen mit ihren etwas nervenden Klängen chinesischem Trash in nichts nach. Das sollte nachgebessert werden. Nicht, weil man annehmen müsste, das grobdigitale Biepen schadete dem armen Kinderhirn, es ist lediglich elterlicher Egoismus, der hier spricht. Die schmeichelnden Klänge chinesischer Gongs böten sich an, als akustisches Zeichen des Kommenden. Nichtsdestotrotz bezeugt das bisherige Scheitern des Brio-Netzes vor allem eins: In diesem Land hat die Zukunft schlechte Karten. ULRICH GUTMAIR
Der Sommer und die Superkünstler
Sex, Led Zeppelin, Ratgeber Kunst. Wir haben zu wenig Sex. Diese alte Weltweisheit hatte auch 2007 Bestand. Wenig Sex heißt viel Sublimation, also ein gesteigertes Interesse an Kunst und Kultur. Dieses wiederum endet oft in Missverständnissen, hinsichtlich Sex etwa, oder Led Zeppelin. Aber das ist ein anderes Thema. Wir haben zu wenig Sex und – eine weitere schlimme Folge von Sublimation – zu viel Geld. Was 2007, im Jahr der großen Kredit- und Bankenkrise, dennoch erstaunlich ist. Das Geld investieren wir gerne kulturell, kurz, in Kunst. Über die wir dann sagen, dass sich ihr „Erfahrungszusammenhang stets seiner geschichtlichen Dimension vergewissert“!
Wem solche Sätze einfallen, der gehört definitiv zum Kunstbetrieb. Wer erst dorthin will, also nach Basel/Miami Beach, dem seien die Bände 1 bis 3, „Erfolgreich Sammeln – Zeitgenössische Kunst zwischen Leidenschaft und Rendite“, „Traum-Karriere Künstler – Auf dem Weg zum Superstar“ und „Unternehmen Galerie – Kunsthandel professionell“, des Verlegers und Herausgebers der überall gratis ausliegenden Kunstzeitung, Karlheinz Schmid, empfohlen. Wer immer sich zum Sammler, Galeristen oder Künstler berufen fühlt, darf auf seine „Ratgeber Kunst“ (Lindinger + Schmid) getrost verzichten. Wer allerdings nur mitreden will, und zwar im Erfahrungszusammenhang gerader, verständlicher Sätze und Anekdoten, wie es sich beim Small Talk ziemt, ist gut bedient. Und der geschichtlichen Dimension kann er sich auch ganz sicher sein: Diese schicken, bunten Bildbändchen sind so was von Jahrgang 2007, eindeutiger geht’s nicht. BRIGITTE WERNEBURG
Die Niederlage umarmen
Tocotronic, Kapitulation. Allein ein neues Tocotronic-Album ist ja schon eine schöne Sache. Kann man hören, kann man Texte mitlesen, kann man sich die Hirnwindungen wund interpretieren wie am fiesen Zeit-Rätsel. Mit dem Song „Kapitulation“ von dem gleichnamigen Album (Vertigo/Universal) aber analysierte Dirk von Lowtzow nicht nur das Jetzt, sondern gab einem erstmals auch eine konkrete Handlungsanweisung: „Und wenn du nicht weißt, wie soll es weitergehen: Kapitulation“.
Und siehe da: In die Alltagspraxis umgesetzt, funktioniert das sperrige Wort aus dem Militärischen ganz vorzüglich. Ob Angst vor der Zukunft oder Probleme mit der Vergangenheit: einfach kapitulieren. Zahlst du zu viele Steuern oder gar keine: Wen kümmert’s. Ist dein Chef böse zu dir oder hast du gar keinen: auch egal. Mitesser auf der Nase oder Pickel am Arsch, die Gummibärchen schmecken nicht mehr wie früher, und die Streichhölzer waren auch besser, als sie die Köpfe noch auf der anderen Seite hatten: Fuck it all. Die ganze verdammte Scheiße einfach annehmen, umarmen, auslaufen lassen in einer watteweichen Is-mir-doch-wurscht-Haltung – das ist ungemein erleichternd und fast Zen-artig entspannend. Auf zum Exodus.
Und das Allerunglaublichste an „Kapitulation“: Man kann zu dem Song sogar tanzen.
THOMAS WINKLER
Konfetti, Regen und Gewalt
Dimiter Gotscheff, Armin Petras, Perceval, Vienne. Es hat viel geschneit und geregnet im Theaterjahr 2007. Erst wateten Molières „Tartuffe“ und seine Opfer knöcheltief durch das Konfetti, das Dimiter Gotscheff am Thalia Theater Hamburg minutenlang in die Luft schießen ließ. Dann versank Kleists „Prinz von Homburg“, den Armin Petras in Frankfurt und am Berliner Maxim Gorki Theater inszeniert hat, im Regen, der alle Farben restlos aus dem Stück wusch, bis nichts als das nasskalte Elend und die schwarzdunkle Nacht übrig blieb.
Das dritte Erinnerungsbild gehört dem Schnee, der über vier, fünf Stunden immer wieder fällt in „Moliére. Eine Passion“ von Luk Perceval an der Berliner Schaubühne. Vier Dramen Molières vergehen dabei wie Schnee in der Sonne in den wütenden Monologen, die ein Mann (Thomas Thieme) hält, der ganz vorne in dem Schneetreiben sitzt: Unablässig rollt er die Geschichte seiner Ängste auf das Publikum zu, als wäre sie ein Eisberg. Er fürchtet sich vor der Liebe und ihrem Verlust, vor dem eigenen Körper und seinem Ende. Eine monomanische und exhibitionistische Show, die sich an der eigenen Monumentalität berauscht.
Noch einmal Winterstarre bis zum Tod beherrschte die Bühne in dem Stück „Kindertotenlieder“ der Schweizer Choreografin Gisèle Vienne: Sie durchquerte mit Black-Metal-Musik und fast bewegungslosen Figuren Gewaltfantasien und Todessehnsüchte, die von der schwarzen Romantik bis zur Popkultur reichten.
Das war das kälteste und zugleich anrührendste Winterbild. Die Kälte bleibt stehen, die Geschichten ziehen hindurch: Das Wetter auf der Bühne ist mehr als eine Metapher. Mit ihm zieht die Ahnung einer nicht mehr zu kontrollierenden Gewalt durch alte Dramen und neue Schauspiele. Die Ahnung einer Gewalt, die monumental über alles hinweggeht, was sich der Mensch so ausgedacht hat an Instrumenten, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
KATRIN BETTINA MÜLLER