: Fremde unter sich
Die bekanntesten Opernhelden waren Migranten. Das HAU bestellt sie nun auf ein deutsches Ausländeramt – im Singspiel „Strangers“
VON RONALD DÜKER
Alle Jahre wieder fällt gerade in der Vorweihnachtszeit eins auf: Migranten singen die traurigsten und stolzesten Lieder. So werden sonst stramme Konsumenten rührselig und werfen aus schlechtem Gewissen Münzen in Geigenkästen. Wie aber steht es um die Aufenthaltsgenehmigungen der fröstelnden Straßenmusiker? Und wie um die moralische Verfasstheit einer Konsumgesellschaft, deren Identität nicht zuletzt auf der gewissenhaften Arbeit von Ausländerbehörden gründet?
Diese Frage steht wohl im Zentrum des Musiktheaterstücks „Strangers“, das am Sonntagabend im Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU) Premiere hatte. „Ein deutsches Singspiel von Verdi, Puccini, Mozart und Bizet“ hat der Regisseur Florian Lutz hier auf die Bühne gebracht und dabei aus einer historischen Beobachtung seinen politischen Ansatz bezogen. Denn es war in der europäischen Oper häufig so, dass im Zentrum der vertonten Erzählungen Fremde standen, durch die die Vergemeinschaftung einer westlichen Kultur überhaupt erst möglich schien.
Exemplarisch führt Lutz das anhand von fünf Opern vor, die zu den bekanntesten Stücken des klassischen Repertoires zählen: „Otello“ und „Rigoletto“ (Verdi), „Die Entführung aus dem Serail“ (Mozart), „Carmen“ (Bizet) und „Madame Butterfly“ (Puccini). Ob es nun der frauenraubende Haremsfürst Osmin oder die männerverschlingende Zigeunerin Carmen ist, der Hofnarr Rigoletto oder Madame Butterfly, die rätselhafte Geisha – im Konflikt der Kulturen und sexuellen Gepflogenheiten sind es stets die Randfiguren, die die Geschichte voranbringen und am Ende moralische Schlussfolgerungen ermöglichen.
„Strangers“ zeigt diese Figuren als Gestrandete im Wartesaal einer deutschen Ausländerbehörde. Eine elektronische Nummernanzeige, orangefarbene Hartschalensitze, ein Regal voller Aktenordner an der Wand – Pia Wessels’ Bühnenbild vermittelt eine melancholisch gefärbte Wartesaalatmosphäre, wie man sie von Anna Viebrocks Bauten für Christoph Marthaler kennt, und auch der Einsatz von Musik ist den Arbeiten des Schweizer Regisseurs nicht fremd. Altbekannte Opernfragmente wehen aus der Musikgeschichte direkt in diesen unwirtlichen Raum.
Carmen wartet hier auf ihre Abschiebung, nachdem sie mit einer vagabundieren jugoslawischen Hochzeitskapelle aufgegriffen worden ist. Butterfly will endlich Pinkerton, den Vater ihres Kindes, ausfindig machen. Der hatte sie ja in der Oper so schnöde sitzen lassen. Osmin, der alte Schwerenöter, hat gleich vier Frauen als potenzielle Trauscheinlieferantinnen angeschleppt. Otello, der bei Verdi einen Mord aus Eifersucht begangen hatte, soll nun reintegriert werden. Rigoletto hingegen ist als billige Hilfskraft bei der Behörde angestellt und als solcher auch damit befasst, den anderen Opernhelden den Fragenkatalog für Asylanträge vorzulegen.
Dabei hauen sich die übellaunigen Protagonisten die Kernsätze ihrer jeweiligen Libretti einander um die Ohren: „Marsch! Trollt euch fort!“, schmettert Osmin, der im Trainingsanzug den türkischen Macho gibt. Zugleich vertraut Carmen, die nichts von der Behörde hält, ihr Schicksal höheren Mächten an: „Die Karten lügen nicht.“
In kakophonischer Überblendung oder harmonischem Zusammenklang gelingt dem Komponisten Antonis Anissegos dabei ein grandioses Medley der musikalischen Originalfragmente. Ein Streichquartett plus Tuba und Klarinette begleitet die professionellen Opernsänger auf der Bühne mit dem kammermusikalisch abgespeckten Orchesterpart.
Das funktioniert hervorragend und trägt das Publikum auch über gelegentliche Längen der Handlung hinweg. „Strangers“ ist ein wirklich politisches Opernarrangement und ein Kommentar zu einer brisanten städtischen Kulturdebatte. Auf der Theaterbühne entlarvt es den Wowereit’schen Kulturbegriff, nach dem vor allem vom Fortbestehen der großen Opernhäuser abhängt, ob künftig Wirtschaftsleute in die Stadt gelockt werden können. Die sieht man ja im HAU oder der Volksbühne eher nicht. Bevor die Oper darüber endgültig zur restaurativen Kunstform verkommt, könnte sie durch weitere Theaterexperimente ruhig noch weiter aufgemischt werden.
18., 20. und 21. 12. im HAU 1, 19.30 Uhr