Gedrängel und Drones beim Festival MaerzMusik : Uneinlösbare Versprechen und subtile Obertöne
PHILIPP RHENSIUS
Zeit ist das, was passiert, wenn nichts anderes geschieht. Diese Zeit, sie ist immer einfach da, und vergeht, ohne Rücksicht auf diejenigen zu nehmen, die es schwer haben, sich mit ihr zu synchronisieren. Wie etwa die Menschengruppe, die am Mittwochabend vor der verschlossenen Tür in der Berliner Philharmonie steht, nur weil andere, denen der tägliche Kampf mit der Zeit weniger Probleme bereitet, bereits alle Stühle belegt haben. Die Wartenden sind empört. „Sowas habe ich in zwölf Jahren Maerz Musik noch nie erlebt“, schimpft eine elegant gekleidete Frau Mitte 50, deren Stimme beim letzten Wort umkippt. „Früher hätten wir uns einfach auf den Boden gehockt.“ Der agile Mann mit konspirativem Knopf im Ohr lässt sich nichts anmerken, beharrt stattdessen auf seinem Mantra. Es seien bereits alle Plätze belegt und man dürfe daher leider niemanden mehr hereinlassen.
Die Situation passt gut zum Thema des diesjährigen Maerz Musik Festivals, das sich thematisch dem Nachdenken über den Umgang mit Zeit als Kategorie des Politischen widmet, als Phänomen, das sowohl unsere Lebens- als auch unsere Arbeitsweisen bestimmt. Waren es doch die im Industriezeitalter eingeführten Uhren, die die Zeit gnadenlos standardisierten und rationalisierten – und damit die Grundbedingung des Kapitalismus schufen. Denn seitdem ist Zeit keine subjektive Konstruktion der Wahrnehmung mehr, sondern eine objektive Größe, deren Nichtbeachtung – wie hier in der Philharmonie – negative Konsequenzen für die Gegenwart hat. Um zukünftige Gegenwarten geht es einen Tag später beim Film- und Musiktheater-Projekt „Kredit“, für das die Macher Banker in Frankfurt bei ihrer Arbeit und im Alltag filmten.
Die Tonspuren des Originals wurden gelöscht, um die Bilder in der Tradition des Stummfilms mit drei Live-Musikern und den im Hintergrund auf einer Treppe stehenden echten Chor der Deutschen Bundesbank und zwei Synchronsprechern live zu vertonen. Das zwischen avantgardistischem Konzert, Performance und Kino pendelnde Stück lebt vor allem von seiner Spannung zwischen dem real ablaufenden Bühnengeschehen und der abstrahierten Filmhandlung. Bilder von unterkühlten Büroräumen in der Bundesbank und Nahaufnahmen von sprechenden Köpfen mit akkuraten Kurzhaarfrisuren werden mit absurd-gebrochenen Dialogen verschaltet: „Unsichere Erwartungen für einen Kredit sind sicherer als sichere Erwartungen, weil bei letzteren kein Risiko eingeplant wird“ oder „dieses Geld ist kein Geld, sondern ein uneinlösbares Versprechen auf Geld“.
Ganz im Gegenteil zur Musik, die als Kunst der Zeit das Privileg hat, Zeit auf alternative Weise erleb- und spürbar zu machen – wie bei der Abschlussveranstaltung „The Long Now“ im Heizkraftwerk Mitte, bei der von Samstagabend bis Montagmorgen pausenlos Installationen und Konzerte stattfanden. Beim fünfstündigen „Streichquartett Nr. 2“ von Morton Feldman wurde dann nicht nur die Zeit radikal gedehnt, sondern in Anbetracht des ausgeglichenen Verhältnisses von rotweintrinkenden Lederschuhen und kiffenden Sneakern auch die soziologische Spannbreite des Festivals. Spätestens mit dem neun Stunden weilenden Konzert des US-amerikanischen Minimal Music-Komponisten Phil Niblock glichen sich die Besucher jedoch immer mehr. So verwandelten die von live gespielten Blasinstrumenten erzeugten Drones, aus denen sich nach einiger Zeit immer wieder neue subtile Obertöne herausschälen, die Anwesenden in liegende, sitzende oder träge mäandernde Wesen, für die das Wahrnehmen wichtiger wurde als das Wahrgenommene. Ein radikaler Gegenentwurf zum Effizienzregime der Zeit – und ein glückseliger Zustand des totalen Jetzt.