: Zementmischer-Poeten und Wellenfell-Musiker
KLANGKUNST Reiz- und Anspruchsvolles abseits gewohnter Konzertkost: Die „Hörbar“ ist Hamburgs zentraler Treffpunkt der experimentellen Musikszene. Seit sechzehn Jahren veranstaltet sie am Jahresende ihr zweitätiges „Ausklangfestival“
VON ROBERT MATTHIES
Einfach mal die Gebrauchsanweisung aus dem Fenster werfen: Vier DJ-Mischpulte und acht Plattenspieler, ohne Platten darauf, dafür präpariert mit allerhand Haushaltsmaterialien und Müll von Klebe- und Gummibändern über Papierschnipsel und Etiketten bis zu Büroklammern und Drahtspiralen, denen anschließend mit den Plattenspieler-Nadeln absolut Unerhörtes abgerungen wird: „Wir haben gelernt, diesen Tisch mit dem ganzen Krimskrams als unser selbstgebautes Instrument zu betrachten und damit Geräusche und Klänge zu erzeugen, die oftmals spröde und karg anmuten, aber doch eine ganz eigene Qualität und Anmut besitzen“, erzählen die Erfinder dieses „Octogrammoticums“.
Mit einfachsten Mitteln und dem denkbar einfachsten Verfahren hat das Schwarzwälder Künstlerkollektiv „Institut für Feinmotorik“ in seiner Klang-Bastel-Performance „Die 50 Skulpturen des Instituts fuer Feinmotorik“ Alltägliches zweckentfremdet und präzise akustisch analysiert: ein ratternder Plattenteller, eine holpernde Nadel, ein reißendes Gummiband – wie lassen sich daraus eigenständige Gebilde entfalten, wie lässt sich so ein Klang-Material strukturieren, wie bastelt man daraus provisorische Skulpturen?
Radikal sinnlich
Gewonnen hat das Geräuschmusik-Quartett – das nicht nur Musik und Klangkunst produziert, sondern sich die ganze Palette der Medien zunutze macht: fotografiert, Videos dreht, installiert, zeichnet, Computer programmiert oder druckt; verschiedenste Veranstaltungen organisiert, Theorie publiziert, Vorträge hält, Seminare durchführt und andere Künstler produziert – mit der reduziert-konzentrierten Bastelarbeit letztes Jahr den vom Südwestrundfunk gestifteten Karl-Sczuka-Preis, die wichtigste Auszeichnung für avancierte Radiokunst in Deutschland. Weil das „Aggregat in Klang geformter Körper von rätselhafter Archaik“ die Jury nicht nur seiner konkreten sinnlichen Klanglichkeit wegen überzeugt hat, sondern auch durch seine radikale Konsequenz.
Beeindruckt war auch Asmus Tietchens, selbst zweifacher Karl-Sczuka-Preisträger: In der Welt des Instituts schabe, raschele, brumme, klopfe und greine es „so komplex, dass die Entropie vorstellbar wird“, war der Hamburger Klangkünstler begeistert, der den Preis 2003 und 2006 gewonnen hat. Zuletzt, weil er sein Instrument ganz langsam, Millimeter für Millimeter, auseinandergenommen hat: Als Klangerzeuger für sein Werk „Trois Dryades“ diente Tietchens ein Baumstamm – den er gespalten hat. Die dabei in dessen Inneren entstandenen, mit bloßem Ohr überhaupt nicht hörbaren Geräusche nahm der 63-Jährige mit empfindlichsten Kontaktmikrofonen auf, filterte sie extensiv, brachte eine ganze Reihe anderer exotischer technischer Maßnahmen in Anschlag und erwirtschaftete auf diese Weise schließlich eine Unmenge klanglicher Strukturen, die er wiederum zum Ausgangspunkt seiner kompositorischen Arbeit machte.
In den drei Teilen seines Werks bastelte Tietchens dann nach rein gestalterischen Gesichtspunkten ein Geräusch- und Klangkontinuum, dessen Verweise auf das gespaltene Ausgangsmaterial am Ende kaum noch wahrnehmbar waren. Das „Zusammenspiel von vibrierenden Klangflächen und scharfkantigen Klangimpulsen, das Changieren zwischen konkret und abstrakt, der Wechsel zwischen kontemplativer Weite und physischer Bedrängung“ biete ein „Hörerlebnis von besonderem Reiz und Anspruch“, befand damals die Jury.
Hörbar anspruchsvoll
Wer sich in Hamburg auf die Suche nach derart reiz- und zugleich anspruchsvollen Hörerlebnissen abseits gewohnter Konzertkost – oder ganz konkret nach Asmus Tietchens – begeben will, findet jeden Mittwochabend in der Bar des B-Movie einen zumindest physisch allen offenen Einstiegspunkt. Das Foyer des Kinos verwandelt sich dann in die Hörbar, Hamburgs zentralen Treffpunkt von Konsument_innen und Produzent_innen experimenteller und elektro-akustischer Musik. Hier spielen sich die Freund_innen furchtloser Klangerkundungen gegenseitig ihre Werke vor, tauschen Informationen und planen gemeinsame Projekte. Oder lauschen einfach mal, welch interessanten Klänge ein Bier erzeugen kann.
Anfang der 1990er von Wolfgang Neven alias „YTonG“, Thomas Beck alias „tbc“ und Malte Steiner – bekannt vor allem durch seine Projekte „Notstandskomitee“ und „Elektronenhirn“ – initiiert, konstituierte sich die stetig gewachsene Gruppe nach fünf Jahren als gemeinnütziger Verein. Heute kümmern sich rund 30 Mitglieder darum, Produzent_innen und Konsument_innen ins Gespräch zu bringen, die bisweilen sehr isolierten Aktivitäten untereinander und einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen und regionale wie internationale Netzwerke aufzubauen. Und machen sich ganz allgemein für die Verbreitung und Förderung experimenteller Kunst, insbesondere elektronischer, elektroakustischer und industrialer atonaler Geräuschmusik stark – wobei sich die Hörbar explizit auch für medienübergreifende Projekte wie Filme, Texte oder Performances interessiert.
Unerhörter Jahresausklang
Regelmäßig finden im Kinosaal des B-Movie auch Konzerte, Lesungen, Tanzperformances und Filmvorführungen statt. Die Grenzen sind dabei weit gesteckt, man ist offen für alle Künstler, die ihre Stücke vorstellen wollen. Das gilt auch für das zweitägige „Ausklangfestival“, das die Hörbar seit sechzehn Jahren am Ende jedes Jahres veranstaltet: Im Kinosaal treten Künstler oder Gruppen auf – letztes Jahr war einer der Höhepunkte der Auftritt des Instituts für Feinmotorik –, im Keller präsentieren sich derweil Labels, die sich mit der Herstellung und dem Vertrieb experimenteller Musik beschäftigen.
Mitte nächster Woche ist es wieder so weit. Sechs Projekte sind dabei zu hören: Am Mittwoch stellt Jean-Hervé Péron, Mitgründer der Krautrock-Legende Faust und Mitinitiator des jährlichen Avantgarde-Festivals in Schiphorst, mit „Poetes dans la Betonniere sans Orchestre“ eine weitere Arbeit für Zementmischer vor, die Elektroakustiker_innen Heidrun Schramm und Nicolas Wiese untersuchen gemeinsam Material aus ihren Soloarbeiten neu und der Berliner Kakawaka macht Krach mit Computern, Mikros und Gabeln. Am Donnerstag dann präsentieren Jan Thoben und Boris Hegenbart ihr „Wellenfell“, ein über Sensoren, ferngesteuerte Hubmagneten und Membranen vernetzter Hybrid aus präpariertem Schlagzeug und Elektronik, das französische Duo Les Trotteuses hinterfragen mit einem Orchester aus fünfzig Weckern unsere Begriffe von Ordnung und Arbeit und der Brite Simon Whetham hat unter anderem Fieldrecordings aus dem Amazonas-Regenwald mitgebracht.
Und wer weiß, vielleicht kennt man Ende der Woche schon seinen persönlichen Favoriten für den Karl-Sczuka-Preis im nächsten Jahr. In jeden Fall aber war man Zeuge des unerhörtesten Jahresausklanges der Stadt.
■ Hamburg: Mi, 28. 12. + Do, 29. 12., B-Movie, Brigittenstraße 5; www.hoerbar-ev.de