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Archiv-Artikel

WIR:HIER

Kapitel 22

Als das Feuerzeug den Geist aufgegeben und sie immer noch keine Ahnung hatten, ob sie nach rechts oder links gehen sollten, wurde Matteo panisch. Auch wenn sie zufällig die richtige Richtung wählten, wäre da noch die eingestürzte Stelle, an der sie sich vorbeizwängen müssen. Ohne Licht. Das schaffte er niemals. Er konnte sich vorstellen, wie die Menschen, die sich in den letzten Kriegstagen im Tunnel verkrochen, gefühlt hatten – furchtbar. Draußen Bomben, Panzer und Straßenkämpfe, der Tunnel aber war wie eine Mausefalle, die Leute saßen fest, erschöpft, traumatisiert, hungrig, und dann kam das Wasser. Schnell, viel zu schnell, um zu flüchten. Keine Luft zum Atmen.

Seine Beine zitterten wie verrückt, er kauerte sich auf den Boden, ihm war schwindelig, er fühlte, dass die Wände näherkamen, die Luft knapp wurde. „Wir sterben hier“, flüsterte er. Laura hockte neben ihm, auch sie hatte Angst. „Los, steh auf, ich geh vor und du hältst dich an mir fest. Links, ich weiß es genau, wir müssen nur einmal links um die Ecke und dann geradeaus. In zehn Minuten sind wir draußen. Komm!“ Matteo reagierte nicht.

„Steh auf!“ Ihre Stimme war schrill und gleichzeitig kaum zu hören, von den dicken Wänden wie Watte aufgesogen. Matteo konnte nicht aufstehen. Unmöglich.

„Okay, wir rauchen erst mal eine.“ Laura fischte Tabak aus seiner Jackentasche, drehte und entschied dann, das Feuerzeug, falls es überhaupt noch mal aufflammen würde, nicht für Kippen zu verschwenden. Sie musste Matteo ablenken und gleichzeitig überlegen, was sie tun sollten. Ihr schoss der Gedanke, einfach das T-Shirt hochzuheben und Matteo ihre Brüste zu zeigen, durch den Kopf. Brüste lenken jeden Jungen ab. Aber sie hätte sich ganz ausziehen können, er hätte es nicht gesehen. Sie entschied sich für Loslabern und fragte: „Was ich schon die ganze Zeit wissen will: Hat deine Mutter Krebs oder was anderes?“

„Häh?“

„Na, die ist doch krank, oder?“

Er schüttelte den Kopf, das konnte sie am Rascheln seiner Jacke hören.

„Jetzt erzähl halt. Wenn wir hier sterben, können wir uns auch vorher die schlimmsten Geheimnisse erzählen. Und ich will wissen, was bei dir zu Hause Sache ist.“

Und dann erzählte Matteo. Wie sich die Eltern getrennt hatten, als er neun Jahre alt war. Dass die Besuche von seinem Vater immer seltener wurden und die Mutter ihm irgendwann erzählte, sie sei wieder verliebt. Da war er vierzehn und hatte sich längst mit der Scheidung arrangiert. Aber seine Mutter hatte sich nicht nur einfach verliebt. Sie hatte sich in eine Frau verknallt. Und behauptete, dass sie sich schon immer mehr von Frauen angezogen gefühlt hätte, schon bevor sie mit seinem Vater zusammenkam. Als ob er das wissen wollte! Er findet das so eklig. Seine Mutter eine Lesbe. Das sei einfach so megapeinlich.

„Das ist alles?“ Laura unterbrach ihn. „Meinst du, ich finde es nicht eklig, mir meine Eltern beim Sex vorzustellen? All das tote Fleisch. Das will niemand wissen. Deine Mutter macht es eben mit ihrer Freundin, ist weder besser noch schlechter, ist nur genauso eklig. Die Erwachsenen sind alle Scheiße, jeder auf seine Art, hast du das nie bemerkt? Du verplemperst die einzige Zeit, in der du nicht bist wie die, damit, dich über Erwachsene aufzuregen. Du bist fast 17, deine Mutter, die ist Vergangenheit. Echt, voll egal, was die Alten machen, wen interessiert das? Die hatten ihre Chance, haben sie nicht genutzt. Niemand hat sie gezwungen, so klein zu werden. Das haben sie ganz alleine geschafft. Die sind dermaßen armselig, wir sollten fast Mitleid haben“

Matteo fühlte sich komisch. Leicht. Er hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen, und so wie Laura reagierte, das hätte er niemals erwartet. Vielleicht hatte sie recht und es war tatsächlich vollkommen egal, wen seine Mutter liebte oder nicht. Laura redete weiter, bevor er diesen Gedanken zu Ende denken konnte. „Das hat alles nichts mit dir zu tun. Bei mir stell ich mir immer vor, meine Mutter hatte einen Terminkalender, in dem stand: Geschlechtsverkehr, Dienstag 17 Uhr 15 bis 17 Uhr 30. Das ist auch nicht besser. Echt, ich fass es nicht. Du machst einen Riesenwirbel und dann ist es nur ein kleiner Furz. Ich dachte, die muss sterben! Was echt Schlimmes. Aber wenn du dich unbedingt mit deinen Eltern beschäftigen willst, denk lieber mehr über deinen Vater nach. Warum hat der dich so selten besucht? Vielleicht ist nämlich er das größere Arschloch bei euch.“ Laura schüttelte den Kopf. „So, jetzt gib mir mal das Feuerzeug und steh auf. Wir gehen.“

Sie stand auf, zog Matteo hoch, ließ noch mal die winzige Flamme aufblitzen und sagte: „Da lang, du Pfeife.“ Kurz bevor das Licht wieder erlosch, sah sie auf dem Boden unter dem Staub etwas aufblitzen. Schnell bückte sie sich, hob es auf und steckte es in die Jacke. Dann war erneut Dunkelheit um sie rum. Sie nahm Matteos Hand und tastete mit der anderen an den feuchten Betonwänden lang. Nicht dass sie sich wirklich sicher fühlte, in die richtige Richtung zu gehen, aber immerhin glaubte Matteo ihr. Kurz darauf fanden sie die Stelle, an der die Seitenwand eingebrochen war. Laura schob Matteo durch die Enge, er sollte gar nicht darüber nachdenken können, ob er sich dazu in der Lage sah. Die Luke musste jetzt ganz in der Nähe sein. Sie liefen schneller und dann stieß Laura gegen die Sprossen, die nach oben führten.

„Siehst du. Wir haben es geschafft. Wir sind zu jung zum Sterben!“

Die Luft draußen war so gut und der Himmel so hoch.

Vielleicht hatte sie recht und es war tatsächlich egal, wen seine Mutter liebte oder nicht

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist imVerbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de