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Archiv-Artikel

Im Archiv der Stimmen

Der Kriegsgefangene als ethnologisches Forschungsobjekt: Im Kunstraum Kreuzberg widmen sich zwei Ausstellungen den Lücken in der Geschichte des deutschen Kolonialismus und Rassismus

VON JESSICA ZELLER

Die erste Moschee auf deutschem Boden wurde am 13. Juli 1915 im „Halbmondlager“ in Wünsdorf bei Berlin eingeweiht: „Exotische“ Kriegsgefangene aus den Kolonialgebieten der Entente sollten hier während des Ersten Weltkriegs ihre Religion praktizieren können. Die Stärkung ihres islamischen Glaubens sollte sie dazu bewegen, die Seiten zu wechseln, also gegen die „gottlosen“ Kolonialmächte England, Frankreich und Russland und für den Verbündeten des Deutschen Reiches, das Osmanische Reich, zu kämpfen und zu sterben.

Die Propaganda hatte wenig Erfolg. Auf großes Interesse stießen die Gefangenen hingegen in der Wissenschaft. Die Königlich Preußische Phonographische Kommission hat in akribischer Forschungsarbeit die Sprachen und die Musik von 250 „Völkern der Erde“ auf Schellack gepresst und für die Nachwelt festgehalten. Die Tonaufnahmen, die sich heute im Berliner Lautarchiv der Humboldt-Universität befinden, bilden die Grundlage für die Ausstellung „The Making of …“ von Philip Scheffner und Britta Lange im Kunstraum Kreuzberg. In leeren Räumen hört man Zahlen oder Musterwörter, gesprochen in den verschiedenen indischen Sprachen, oder vernimmt das seltsam traurige Lied der Gurkhas. Von Zeit zu Zeit erscheint eine amtliche Registrierung mit Namen, Aufnahmedatum, -zeit und -ort sowie „Rassenzugehörigkeit“ auf dem Bildschirm. Dazwischen ertönt ein Aufruf, mit dem Kaiser Wilhelm II. die Deutschen in den Ersten Weltkrieg schickte. Dann wieder sekundenlanges Knistern und Stills aus dem heutigen Wünsdorf.

Die Fragmente, die Gegenwart und Vergangenheit des Ortes so nebeneinandersetzen, sind zwar nicht auf den ersten Blick verständlich, aber zumindest verstörend und werfen viele Fragen auf: Was passiert hier? Wer spricht hier? Und von was wird überhaupt erzählt? „Ich widme mich den Leerstellen in unserer offiziellen Geschichtsschreibung“, sagt Philip Scheffner, der bereits im Vorfeld zur Ausstellung eine längere Dokumentation über das „Halbmondlager“ gedreht hat. Die akustische Installation trägt deshalb den Titel „The Making of …“.

Das bildliche Pendant zur Bearbeitung des Tonträgergedächtnisses ist die Ausstellung „Bilder verkehren“ von einer Gruppe Hamburger HistorikerInnen, die zeitgleich in den Nebenräumen stattfindet. Auch hier wird der Fokus auf die Bruchstellen in der linearen historischen Erzählung gelegt, auf Reibungspunkte und auf Akteure, die im Mainstreamdiskurs keine Erwähnung finden. In diesem Fall: schwarze Menschen im Kaiserreich und der Weimarer Republik sowie unsere „neuen Landsmänner“ in den afrikanischen Kolonien. Das Material sind Postkarten, großteils aus dem Bestand des privaten Sammlers Peter Weiss, die zum damaligen Zeitpunkt ein beliebtes Kommunikations- und Werbemittel darstellen. Neben den diffamierenden Porträts eines „verwegenen Hottentottenhäuptlings Hendrik Wittboi“ und den Darstellungen einer lediglich von Löwen und Giraffen bewohnten wilden Natur finden sich erstaunlich viele Aufnahmen von schwarzen Künstlern aus dem Schaustellergewerbe, dem Varieté oder der entstehenden Filmbranche.

Oft blieben schwarze Männer, die nach Deutschland gekommen waren, weil sie auf deutschen Schiffen angeheuert hatten, um die Zeit der Jahrhundertwende hier. Andere waren zur Ausbildung an hiesige Universitäten „versandt“ worden oder reisten als Teil einer „Völkerschau“ auf Tournee durch deutsche Städte. Ihre Fotos, die sie selbst in Auftrag gaben, dienten als Visitenkarten und dazu, auf bestimmte Veranstaltungen aufmerksam zu machen.

Eine große Rolle spielen in „Bilder verkehren“ außerdem Karikaturen, auf denen meist ein schwarzer Mann und eine weiße Frau in anzüglicher Pose abgebildet werden. Ausstellungsmacher Felix Axster sieht darin mehr als eine rassistische Stigmatisierung: „Man kann sich auch fragen: Welche Angst steckt dahinter? Und welchen realen Hintergrund hatte sie? Immerhin kam es in Deutschland 1905 zum in Europa einmaligen ‚Mischehenverbot‘ zwischen Einwanderern aus den Kolonien und in Deutschland geborenen Männern und Frauen.“

„Bilder verkehren“ ist eine ausgesprochen gelungene Aufbereitung des zunächst recht kleinteilig erscheinenden Mediums Postkarte. Während „The Making of …“ mitunter etwas zu verkopft wirkt und der Zusammenschnitt von Originalaufnahmen und unterbrochenen Bildstrecken zu sehr auf Kunstinstallation getrimmt ist, wird „Bilder verkehren“ an den richtigen Stellen durch historisches Tonmaterial, Musik und gut verständliche Begleittexte ergänzt. So gelingt es, dass die Ausstellung zum einen für den Kenner des Geschehens nicht langweilig wird und dennoch von Besuchern, die vom deutschen Kolonialismus bisher wenig wissen, verstanden werden kann.

Bis 17. Februar. Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Mariannenplatz 2, täglich 12–19 Uhr. Ergänzt durch zahlreiche Begleitveranstaltungen