: Das Leben einer Kette
ERBE Die Mutter liebte ihren Schmuck. Würde sie verstehen, dass die Tochter ihn jetzt verkauft?
VON LUISE STROTHMANN
Ein Paar sind die beiden seit jeher. Sie sehen sich ähnlich, auch wenn sie etwas schwerer ist als er, zwei Gramm etwa, und immer diejenige war, die im Mittelpunkt stand. Eine Kette wird bestaunt, ein Ring bemerkt, so ist das eben.
Aber in diesem einen, wichtigsten Moment, da ging es um sie beide. Damals, als sie zum ersten Mal erfuhren, wie es ist, Freude auszulösen: wenn jemand die Augen aufreißt beim ersten Anblick, den Mund öffnet. Ein halbes Jahrhundert ist das her.
Hilde Löhr* muss geahnt haben, dass ein Päckchen auf sie wartet, als sie das letzte Mal vor Weihnachten an den Stand kommt, an dem sie Pullover und Röcke verkauft. Seit Jahren beschenkt ihre Chefin sie um diese Zeit, mal ist es ein Hut, mal eine Bluse. Bald haben die beiden die harte Zeit der Weihnachtsmärkte hinter sich.
Die Winterkälte hinterm Verkaufstisch macht Hilde Löhr nichts aus. Da zieht man sich eben noch was drüber.
Sie hatte den Job angenommen, als sie, ihr Mann und ihre einzige Tochter endlich in eine größere Wohnung ziehen konnten. Aber zwischen neue Wände gehören auch neue Möbel. Für die wollte Hilde Löhr etwas dazuverdienen, sie, die Einzelhandelskauffrau, die jahrelang zuhause geblieben war.
Es sind die Jahre, in denen Deutschland sein erstes Kernkraftwerk bekommt und sein Zweites Deutsches Fernsehen. Der Höhepunkt des Wirtschaftswunders ist überschritten. Als bei einer Sturmflut in Hamburg 315 Menschen sterben, hören viele erstmals von einem Senator der Polizeibehörde namens Helmut Schmidt.
In dieser Zeit, Anfang der sechziger Jahre, öffnet Hilde Löhr das Weihnachtsgeschenk ihrer Chefin. Darin liegt das Paar. Eine Kette, 42 Zentimeter lang, ein Ring Größe 18. Beide aus 585er-Gold. Auf jedem ist ein Kreis aus stecknadelkopfgroßen Zuchtperlen und in der Mitte ein Calzedon, ein Quarz, den das geologische Glück des Eisenoxids grün gefärbt hatte. Das Gold glänzt.
Hilde Löhr liebt die beiden von Anfang an. Nie hätte sie sich so etwas leisten können.
Ihrer Tochter Gerda gefällt das Paar nicht besonders. Sie wird gerade eine Jugendliche, ihr Geschmack ist schon ein anderer.
Gerda sehnt sich danach, endlich 21 zu werden: volljährig. In ihrem Haushalt bestimmt die Mutter. Dass ein Mädchen zuhause wohnt, bis es in die Ehe geht. Wann es ausgehen darf. Von dem Rebellionsgefühl Ende der Sechziger bleibt für Gerda Löhr das Beatleskonzert in der Essener Grugahalle und einer der Aufklärungsfilme von Oswalt Kolle.
Über den Krieg schweigen die Eltern. Sie erfährt nur, dass die Mutter, Jahrgang 1922, schon einmal verheiratet gewesen war. Irgendwann war doch noch der Brief vom Roten Kreuz gekommen, mit dem Ort, an dem ihr Mann gestorben war.
Liebevoll in Watte gebettet
In dieser Zeit haben viele Deutsche eine gute Stube – ein Zimmer, das die meiste Zeit leer steht und für besondere Anlässe abgestaubt wird. Die Kette und der Ring, das Paar, werden Hilde Löhrs guter Schmuck. So wertvoll, dass sie noch seltener herausgeholt wurden, als eine gute Stube betreten wird. Die meiste Zeit liegen sie, eingeschlagen in Gazetücher, gebettet in Watte, in einer mehretagigen Schmuckschatulle im Kleiderschrank.
1970 nimmt Hilde Löhr sie heraus. Für eine Hochzeit in Weiß, mit Schleier und Streuengelchen. So gehört sich dass, das weiß Gerda Löhr. Sie legt ihren Namen ab und zieht fort. Von einer Abhängigkeit in die nächste, denkt sie. Sie baut mit ihrem Mann ein Haus in einer Kleinstadt im Rheinland, bekommt zwei Mädchen. Sollte sie sich ganz von ihrer Mutter befreien, den Kontakt abbrechen? Aber haben Kinder nicht ein Recht auf Großeltern?
Die Jahre gehen ins Land. Der Ölpreis steigt, die RAF droht, jener Exsenator der Hamburger Polizeibehörde Schmidt wird Bundeskanzler. Hilde Löhr wechselt immer wieder die Frisur, ihre Kleider werden bunter, manchmal schlagen ihre biederen Schwestern die Hände über dem Kopf zusammen. Sie trägt viel Schmuck, oft zwei Ketten, eine lange über dem Pullover, eine kurze im Dekolleté. Irgendwann entdeckt sie zwei Ohrstecker, falsch-gold mit Steinchen, in der gleichen Farbe wie Ring und Kette. Sie legt sie zu dem Paar. Dann Tschernobyl, Wiedervereinigung, World Wide Web.
Ende der Neunziger geht es für Gerda Winkler nicht mehr. Sie kann nicht vier Mal die Woche ins hundert Kilometer entfernte Ruhrgebiet fahren, um nach ihren alten Eltern zu schauen. Sind die eigentlich dankbar? Sie spürt es nicht. Gerda Winkler sucht für sie einen Heimplatz in ihrer Nähe. Private Wertsachen sind dort nicht erwünscht. Hilde Löhr verabschiedet sich von ihrem geliebten Schmuck.
Ihre Tochter bringt das Paar in ein Sparkassen-Schließfach. Sie will es nicht in ihrem Haus, es gehört ihr nicht. Für die Auflösung der Wohnung ihrer Eltern engagiert sie eine Firma. Die Mitarbeiter gehen durch die Räume, packen ein, entsorgen.
Wenige Jahre später stirbt die Mutter. Gerda Winkler trägt ihren Schmuck zu einer Goldschmiedin, die Edelmetall im Ofen einschmilzt. Sie schaut sich das Paar an und winkt ab. Zu schade! Vielleicht könne Gerda Winkler das ins Internet stellen? Sicher gebe es noch jemanden, dem so was gefalle.
Gerda Winkler denkt viel darüber nach, was mit ihren Dingen passieren wird, eines Tages. Rollstuhlgerecht ist ihr Haus nicht. In solchen Momenten schaut sie sich um: rote Kunstledersessel, kubischer Deckenfluter, Weihnachtstischdecke.
Auf Bläschenfolie zur Post
An ihrem sechzigsten Geburtstag holt Gerda Winkler die Kette und den Ring wieder aus dem Schließfach. Ihre beiden Töchter sind zu Besuch, eine wohnt weit weg. Sie schauen sich das Paar ein letztes Mal an. Niemand interessiert sich dafür. Gerda Winkler formuliert eine Ebay-Anzeige, sieben Tage sollte die Aktion dauern, Startgebot ein Euro.
Sie weiß, dass ihre Mutter das nicht verstehen würde. Aber darauf will sie jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Das mit dem Zugucken aus dem Himmel, was sie ihr in der Schule erzählt haben, sieht sie ohnehin skeptisch.
Es ist der 13. Dezember, als das Paar verschickt wird, noch anderthalb Wochen bis Heiligabend. Es ist ihre erste Reise allein, auf Bläschenfolie im grauen Pappschächtelchen, über den Annahmetresen der Lottostelle und die Packstationen nach Berlin. Zu dem Mann, der Gerda Winkler fast 250 Euro für die beiden überwiesen hat. Er hat in den letzten dreißig Tagen über 600 Internetgebote versendet – auf antiken Schmuck, Manschettenknöpfe, Ohrringe.
Sie reisen ungewiss. Ob sie für diesen Mann etwas Besonderes sein werden? Oder für jemand anderen, eines Tages? Zweimal im Leben jemandem eine Freude machen – ist das zu viel verlangt? Sie können sehr alt werden. Sie haben noch Zeit.
*Alle Namen geändert