Ewigkeiten bei Tasmania

FELDFORSCHUNG Der Regisseur Harun Farocki spielte fast vierzig Jahre lang im Neuköllner Klub Tasmania – knapp Tas gerufen – Fuß- ball. Wie in einem Zeitraffereffekt erlebte er vom Platz aus die langsame Bohemisierung des Arbeitermilieus

■ geboren 1944 und im vergangenen Jahr verstorben, war Autor, Dokumentarfilmer und Essayist. Im Haus der Kulturen der Welt ist noch bis Ostermontag die Filminstallation „Eine Einstellung zur Arbeit“ zu sehen von Harun Farocki und seiner Frau Antje Ehmann. Sie hat der taz freundlicherweise diesen bislang unveröffentlichten Text, den Farocki 2004 geschrieben hat, zur Verfügung gestellt.

VON HARUN FAROCKI

Sicher habe ich bei Tas schon früher gespielt, aber die älteste Mitgliedskarte, die ich aufbewahrt habe, ist vom Juni 1969. Wir knödelten sonntags im Studentendorf Zehlendorf, auf einem sehr unebenen Aschenplatz, da waren Peter Werner und Wolfgang Neuss, die mich einluden, auch mal zu Tas mitzukommen. Zum ersten Mal in meinem Leben spielte ich im Trikot, in einem, das am Hals mit Bändern verschnürt wurde. Das erste Spiel mit Tas war auf dem Betriebsgelände von einer Rasierklingen- und Rasierapparatefabrik in Neukölln, Gilette. Damals gab es noch Betriebsmannschaften und Betriebssportplätze, inzwischen alle abgerissen: Karstadt, Allianz.

Das Wort „Prominentenelf“ passte nicht ganz, heute würde man sagen: Viertelprominentenelf. Es gab Boulevardschauspieler in der Mannschaft und Synchronsprecher, auch ehemalige Boxer. Von Zetzmann sagte man, er habe einen Kampf zu viel gehabt. Es geschah, dass er im Jähzorn einem Gegner den Leberhaken verpasste, aber eigentlich war er ein Lamm. Croneras war Hochseilartist gewesen, er zeigte mir Fotos, was für Muskeln er mit 50 gehabt hatte. Er spielte gelegentlich noch mit siebzig. Einmal organisierte er ein Spiel gegen eine Zirkustruppe. Einer spielte im Kaftan, mein Gegenspieler, ein kleiner Nordafrikaner, machte gelegentlich aus Langeweile aus dem Stand einen Salto rückwärts.

Ich wurde als Regisseur geführt, aber ich machte Filme, die keiner gesehen hatte. Ich stimmte stets schnell zu, wenn man mich fragte, ob ich für die 3. Programme arbeitete. Da liefen Filme, die man sich höchstens ansah, wenn in den beiden Hauptprogrammen und auch im Osten nichts Brauchbares lief. Aber dass es diese Programme gab, bedeutete, dass die Obrigkeit deren Berechtigung verbriefte.

Die Spiele fanden in allen Stadtteilen statt, in Spandau, wo unser Manager Willi wohnte, und in Siemensstadt, Charlottenburg, Neu-Westend, Kreuzberg und in den entlegensten Ecken von Britz-Buckow-Rudow. Fast nie gab es Rasen, fast immer Schotter. Auf den Sportanlagen standen Schuppen und Baracken. Rentner und Kinder aus den umliegenden Laubensiedlungen sahen zu und erbaten Autogramme. Auf das Spiel folgte meist ein Aufenthalt in einer dunklen Gastwirtschaft oder einem Vereinsheim, da saßen alle ziemlich wortlos zusammen.

Gelegentlich machte der Kammersänger Otto Hopf den Anstoß oder wir fuhren in ein Lokal in Kreuzberg, wo die „Stimmungssängerin“ Evelyn Soundso, von ihrer Freundin auf der Harfe begleitet, ein paar Lieder von sich gab. Ein selbst gebasteltes Leben aus der Vorkriegs- und Nachkriegszeit stand da noch in Blüte, ohne die Standardisierungen, die heute überall durchgesetzt sind.

Dieses sich einmal in der Woche treffen hat einen Zeitraffereffekt. Mehrfach erging es mir so, dass einer seine Frau mitbrachte und das gerade geborene Kind, kurz darauf spielte es schon hinter dem Tor mit einem Gummiball, bald darauf hörte ich, der Junge sei jetzt Profi bei 1860 München.

Im Zeitraffertempo wiederholte sich: Ein Sportler, meist Boxer oder Trabrennfahrer, kommt zu uns, findet eine Festanstellung bei der Polizei oder bei einer anderen Behörde. Er heiratet und drei Jahre später hat er einen dicken Bauch und schnauft aus. Auch die Frauen in den frühen siebziger Jahren zogen sich mit 35 so an, als hätten sie vom Leben nichts mehr zu erwarten und wären alt.

Im Zeitraffer auch die Veränderungen. Um 1970 holte ich Micki Tonke in die Mannschaft. Er rannte sich die Lunge aus dem Leib und musste oft nach einem Vorstoß vom Platz, um sich kurz zu erbrechen. Obwohl er dem Spiel viel Auftrieb gab, drängte ihn Willi wieder heraus, wegen seiner langen Haare. Ein paar Jahre später nahm Willi den Tonke wieder auf und sagte, um sich selbst zu beschwichtigen, der sähe aus wie Udo Jürgens. Willi bestand weiter darauf, dass man rasiert zum Spiel käme und war entsetzt von den heruntergekommenen Autos, die ich fuhr. Aber unter den Spielern setzte sich die Erkenntnis durch, dass Frauen nicht zur Hausarbeit verpflichtete Hilfskräfte des Mannes sind, und auch den Kindern wurde nicht mehr so sehr über den Mund gefahren. Auf einmal hatten die Frauen anfang 40 goldene Stiefel an – und ein deutlicher Paradigmenwechsel war die Einstellung zu Altbauwohnungen.

Ein Altbau galt bisher als Armutszeichen, in den 60er- und 70er Jahren zogen die Arbeiter und Angestellten gerne aus den alten Quartieren, so Kreuzberg, aus und in die Siedlungen auf den Wiesen, so in Spandau. Die Bohemisierung der Gesellschaft hat Altbauten dann aufgewertet. Allerdings mussten diese umfassend bearbeitet werden. Als Manne Gajewski, der wohl beste Spieler, den wir je hatten, heiratete, befasste er sich wohl sechs Monate mit dem Einziehen einer Decke, mit dem Versenken von Punktstrahlern usw. Es galt noch, einen deutlichen Abstand zu schaffen zu den schlechten Lebensverhältnissen, an die die alten Häuser erinnerten. Ich war erstaunt zu erfahren, dass Mannschaftskameraden sich hoch verschuldeten, um Schrankwände und Schleiflack-Schlafzimmer zu erwerben. Bei einem kosteten die Möbel vierzigtausend Mark, bei einem Einkommen von nicht einmal 2.000 im Monat.

Willi war manchmal kurz davor, mich rauszuwerfen in den Siebzigern. Während der Lorenz-Entführung schlug er vor, jede Stunde einen gefangenen Terroristen zu erschießen. Dann fiel ihm auch ein, dass in der Mannschaft Linke waren, die vielleicht zu den Terroristen gehörten.

Nachdem ich ein paar Mal meine Töchter mitgebracht hatte, war er beschwichtigt: Weil ich ein Familienmensch war, konnte ich nicht ganz schlecht sein. Er benahm sich wie ein Vater, der die größten Zweifel gegen den Freund der Tochter hat; sind aber die Kinder in der Welt, zählt das nicht mehr.

Willi postulierte oft: Bei mir kann jeder spielen, ob Nazi oder Kommunist. Er versetzte sich nach Weimar zurück, wie das ja unsere Bewegung auch tat.

Wir fuhren damals noch manchmal zu Spielen nach Westdeutschland. Eine Reise nach Fürth unternahmen wir zu viert. An das Spiel kann ich mich nicht erinnern, wohl aber an einen langen Aufenthalt im Vereinsheim unseres Gastgebers. Manche aßen, weil es eben gratis war, dreimal das Jägerschnitzelgericht.

Am nächsten Morgen, an einem regnerischen und trüben Feiertag, waren meine Kameraden schon nach dem Frühstück besoffen. Allerdings nicht Wolfgang Neuss. Er zog an seinem Joint und hörte dann mit der Atmung auf, wohl um eine stärkere Wirkung zu erreichen. Dabei lief er rot an, danach japste er.

Auch die Vopos kannten seinen Namen und konnten nicht ganz glauben, dass eine Berühmtheit wie er mit solchen wie uns unterwegs war.

Auf der Fahrt erzählte er, noch vor acht Jahren sei er einen Jaguar E-Type gefahren und habe Pillen geschluckt, da sei er ein böser Mensch gewesen. Das Haschisch habe ihn geheilt. Er entsagte bald auch unserer Mannschaft.

Als Spieler war er vor allem auf Selbstbehauptung aus gewesen. Er kannte allerhand Gassentricks, etwa Schulter an Schulter mit einem Gegner auf den Ball zuzulaufen und im letzten Augenblick den Druck wegzunehmen, sodass der Gegner das Gleichgewicht verlor.

Ich glaube beobachtet zu haben, dass beim Fußballspielen die Seele des Dreizehnjährigen auflebt. Als Wolfgang weise war, kam auf dem Platz noch der Junge zum Vorschein, der sich durchkämpft. Fast immer kommt ein zänkisches Ich zum Vorschein, wie beim Trinken oder im Ehestreit. Das äußert sich im Reden während des Spiels und danach, es wird aber auch im Körperlichen kenntlich. So oft habe ich bei lauten Spielern eine fast rührende Ängstlichkeit in den Bewegungen gesehen.

Die Kinderseele, die sich im Spiel offenbart, kann auch schön sein. Bei mehreren, meist bei den guten Spielern – Angermüller, Lenz und Sebastian – habe ich das erlebt. In ihrem Spiel war Bewegungslust und Eleganz, außerdem waren sie fair und ihre Fairness schien eine Eigenschaft zu sein und nichts Auferlegtes. Selbst wenn sie einen Gegner tunnelten, musste sich der nicht gedemütigt fühlen. Sie hatten einfach einen Spielzug gemacht, der sich angeboten hatte – es ging um das Spielen und nicht um eine Rivalität.

Mit der Zeit änderte sich auch das Duschverhalten. In den ersten Jahren bei Tas wuschen sich die Spieler, wie ich es auch von Fabriken kannte: Es galt jede Spur einer körperlichen Betätigung zu tilgen. Wie nach einer Arbeit seiften sich die Spieler sorgfältig ein, vergaßen auch nicht die Vorhaut, und schrubbten sich mit Bürsten. Sie hatten die Körperhygiene gelernt, als noch in öffentlichen Badeanstalten gebadet wurde und in der eigenen Wohnung nur wöchentlich, nach aufwendigem Einheizen. Sie legten hernach Hemd und Sakko an, oft auch die Krawatte: Das sollte zeigen, dass der Sport sie nicht verwilderte oder verpennerte. Als einmal der vorgesehene Spielort belegt war und Willi den Umzug auf einen anderen Platz organisierte, weigerte sich Angermüller mitzumachen, weil es da keine Umkleidekabinen gab. „Wir sind doch nicht im Kongo.“ Pummel war noch am Ende des Zweiten Weltkriegs, mit Siebzehn, beim Militär gewesen und sagte mir, da habe man beim Waschen immer hetzen müssen, jetzt wolle er es genießen.

Mit diesem neuen Duschgenuss einher ging der Umbau der Sportanlagen. So wie die Plätze eingeebnet wurden und mit Kunstrasen versiegelt, wurden auch die Umkleidekabinen, die des Platzwartes und die Casinos erneuert. Die Buden, von Vereinsmitgliedern am Wochenende errichtet und später erhalten – sie verschwanden und oft auch verschwanden die Bauten aus der Nachkriegszeit, deren Ausstattung den jetzigen Ansprüchen nicht mehr genügte. Eine Dusche, bei der aus einem Hahn heißes und aus dem anderen kaltes Wasser zufloss, war jetzt abgetan und stattdessen wurde eine Mischbatterie eingebaut, wie in den Privathaushalten. Auch die Mode der Gaubenfenster schlug sich in den neuen Zweckbauten nieder. Andere Zeitgemäßheiten: Oberlichter, orange und grün an den Wänden.

Mit diesen Maßnahmen fand die Sportvereinsbewegung öffentliche Anerkennung, wurde in die Gesellschaft ausdrücklich aufgenommen. Zu spät: Mitte der Achtziger begann es mit den Sportvereinen bergab zu gehen. Die Spieler wurden empfindlicher; wie die Profis redeten sie fachmännisch von ihren Muskeln und Sehnen und dass der Fußball ihrem Körper nicht bekam. Es war nicht länger so, dass der Verein der einzige Ort der Geselligkeit war. Und vor allem nahm die Zahl der Spieler, die jahrein jahraus regelmäßig kamen, deutlich ab.

So wie manche Lokale von der Szene übernommen werden, hat sich Tas-Prominentenelf „Bühne und Sport“ bohemisiert. Einige Stammkunden sind noch eine Weile geblieben.

Aus der Zeit vor der Übernahme erinnere ich Mitspieler, mit denen ich über Jahre kaum ein Wort gesprochen habe. So wie für ein Kind Menschen aus der Nachbarschaft oder dem Bekanntenkreis der Eltern zur Lebenswelt gehören, die dennoch gänzlich stumm und fern bleiben.